: Es lebe der Kapitalismus!?
Ein CDU-Reformer plädiert für den dritten Weg zwischen Kommunismus und Vergötzung des Marktes. Nicht nur der Sozialismus, sondern auch der Kapitalismus ist gescheitert. Es gibt Möglichkeiten einer neuen Gemeinsamkeit. ■ VON WARNFRIED DETTLING
Beschäftigungsgesellschaften in Ostdeutschland? „Aber das ist doch Sozialismus!“ Der Stoßseufzer kam spontan, man konnte spüren, wie es der guten Frau am anderen Ende der Leitung bei diesem Gedanken ideologische Schauer über den Rücken hinunterjagte. Nein, sie gehörte nicht zum Beraterkreis um Otto Graf Lambsdorff. Sie war und ist vielmehr bekennende Sozialdemokratin, berlinerfahren, eine SPD- Modernisiererin, sozusagen.
Einer aus der Bürgerrechtsbewegung der früheren DDR zog einen — natürlich unstatthaften — Vergleich. Früher, als die SED das Land unterdrückte, gab es Gesetze und Paragraphen gegen die Arbeitslosigkeit: Wer nicht arbeitete, genauer: Wer nicht arbeiten wollte, wurde kriminalisiert. Heute, sagte er, wird marginalisiert, wer nicht arbeiten kann.
In naher Zukunft und in manchen Regionen und Branchen Ostdeutschlands dürfte über die Hälfte ohne Arbeit sein, in „Frauenberufen“ (Textilindustrie!) 80 Prozent und mehr! Was tun? Wo bleibt der Staat? Richtig: Man könnte doch wenigstens die Werften und die Chemieindustrie verstaatlichen. Der dies forderte, war kein unverbesserlicher Restsozialist, der nichts dazugelernt hat. Der Mann kommt zwar aus der ehemaligen DDR, ist jetzt aber Verkehrsminister und regiert in Bonn. Da mußte ihm schon mal der grüne Ex-Abgeordnete Jo Müller die marktwirtschaftlichen Leviten lesen.
Kommunistische Mandarine und US-Radikalliberale einig
Ein Staatssekretär im polnischen Arbeitsministerium macht sich Sorgen. Es ist nach der Wende. Ihn plagt die Sorge: Wie kann es gelingen, den „Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit“ wieder in die polnische Gesellschaft zurückzubringen? Es käme jetzt alles darauf an, so erklärt er mir, eine „beschleunigte Phase des aggressiven Kapitalismus“ zu verwirklichen. Es handelt sich bei ihm nicht um einen neoliberalen, genauer: neokapitalistischen Import aus den USA. Er war jahrelang führendes Mitglied in der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei. Jetzt verkündet er die Botschaft: Der Sozialismus ist tot. Es lebe der Kapitalismus! Alte kommunistische Mandarine aus Ost-Mitteleuropa und neue Radikalliberale aus den USA reichen sich die Hände.
Er warnt vor der „Gefahr einer ,Vergötzung‘ des Marktes, der die Existenz von Gütern ignoriert, die ihrer Natur nach weder bloße Waren sind noch sein können“. Er fordert den Staat auf, „für die natürliche und die menschliche Umwelt zu sorgen, deren Bewahrung von den Marktmechanismen allein nicht gewährleistet werden kann“. Er erinnert daran, daß „die Entfremdung... auch in den westlichen Gesellschaften eine reale Gegebenheit ist“, definiert als politisches Ziel, „eine Gesellschaftsordnung der freien Arbeit, der Unternehmen und der Beteiligung“ und verlangt, daß der Markt „von den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise“ kontrolliert werde, um „die Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu gewährleisten“. Von wem ist die Rede? Richtig: von Papst Johannes Paul II. in seiner neuen Sozialenzyklika Centesimus Annus.
Episoden, Begegnungen, Beobachtungen aus der jüngsten Zeit. Sie sollen nicht nur zeigen, wie sich die Fronten verkehrt haben in dieser aufregenden Zeit. Sie sollen einladen nachzudenken und gegenzusteuern gegen die wohlfeilen Triumphgefühle über das Scheitern des Sozialismus, die hinwegzuschwemmen drohen, was einmal sicherer Grund und Konsens in der Bundesrepublik Deutschland war: Die Alternative zum Sozialismus heißt nicht Kapitalismus, sie heißt Soziale Marktwirtschaft.
Über den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und dem Zerfall des sowjetischen Imperiums wird gegenwärtig übersehen, daß auch der Kapitalismus als Gegenmodell in sozialer Hinsicht gescheitert ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben der Welt eine demokratische Revolution gebracht. Das amerikanische Modell steht für eine Entfaltung der Menschenrechte und für eine Entfesselung der Produktivkräfte. Aber wahr ist auch: Der amerikanische Versuch, eine Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft zu organisieren unter dem Motto: „Was gut ist für General Motors, ist auch gut für die Vereinigten Staaten von Amerika“, hat nicht nur zu wirtschaftlichen Ausfallerscheinungen, sondern auch zu sozialen Defiziten großen Ausmaßes geführt. Die amerikanische Gesellschaft ist in vieler Hinsicht krank. Das Erziehungssystem versagt, Armut, Drogen und Gewalt nehmen zu. Die „schöne neue Welt“ zeigt in ihren Metropolen immer mehr Symptome der Dritten Welt.
Der soziale Niedergang der Vereinigten Staaten ist Folge des Scheiterns eines Modells, das glaubt, die ganze Gesellschaft wie den Privatsektor der Wirtschaft verstehen und gestalten zu können. Er ist die Folge des Scheiterns einer unsozialen Philosophie, die private Interessen allemal verklärte, aber öffentliche und gesellschaftliche Wertorientierungen nicht kultivierte. „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen“, diese von Margaret Thatcher auf den Punkt gebrachte Theorie, ist eine zwar äußerst wirkungsvolle, aber verhängnisvolle Maxime der amerikanischen Politik.
Es ist schlecht, daß der Sozialismus in den Vereinigten Staaten als Idee und als Korrektiv nie virulent war. Denn damit fehlte eine Perspektive für die soziale Veränderung des Kapitalismus, also für die Errichtung eines Sozialstaates, überhaupt ein Verständnis von Solidarität. Was immer in der politischen und in der gesellschaftlichen Realität und Ideenwelt als Begriff mit sozial beginnt oder als Denkfigur die soziale Dimension mit umfaßt, ob nun demokratischer oder christlicher Sozialismus, ob Sozialgesetze oder katholische Soziallehre — es wird von dem Mainstream amerikanischen Denkens kurzschlüssig mit Sozialismus gleichgesetzt, dieser wiederum mit seiner totalitären Variante und deshalb in Theorie und Praxis diskriminiert.
Das erklärt nicht nur die Defizite der amerikanischen Gesellschaft, sondern auch die Grenzen und Irrtümer der amerikanischen Außenpolitik, ihre strukturelle Unfähigkeit, internationale Konflikte in ihren sozialen Ursachen zu erkennen. In den entwickelten Industriegesellschaften, aber auch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zeigt es sich: Die naturwüchsige Dynamik des Kapitalismus führt nicht nur zu einer Entfesselung der Produktivkräfte und zu wirtschaftlichem Wachstum, sondern auch, weltweit und innergesellschaftlich, zu Ausbeutung und zum Verschleiß natürlicher und menschlicher Ressourcen.
Dies sind einige der Gründe, warum aus den Ruinen des realexistierenden Sozialismus kein neues Leben, keine Triumph des Kapitalismus erwächst. Der Sozialismus hat verloren, aber der Kapitalismus hat nicht gewonnen. Der Sozialismus ist tot, aber der Kapitalismus soll nicht leben.
Hoffnung und Scheitern
Gescheitert sind beim Sozialismus falsche Antworten, aber sie widerlegen nicht die ursprünglichen, die richtigen Fragen. Zu kurz gekommen sind beim Kapitalismus nicht nur Fragen der sozialen Sicherheit, sondern auch die Werte „jenseits von Angebot und Nachfrage“, also all jene kostbaren Dinge im Leben der Menschen und der Gesellschaft, die einen Wert, aber keinen Preis haben. Diese Defizite widerlegen nicht die Vorzüge einer freiheitlichen Demokratie, einer offenen Gesellschaft und einer marktwirtschaftlichen Ordnung.
Die kardinale Frage unserer Zeit lautet: Wie ist Solidarität in einer freien, individualisierten und pluralistischen Gesellschaft möglich? Oder als Aufgabe formuliert: Wie kann es gelingen, eine Gesellschaft zu schaffen, die nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht erfolgreich ist, eine Gesellschaft, in der wir materiellen Reichtum nicht mit sozialer und menschlicher Armut erkaufen?
Die Parteien sind ratlos
Es war eine der großen Leistungen der christlichen Demokraten, mit der Sozialen Marktwirtschaft eine Konzeption entwickelt zu haben, die für wirtschaftliche Freiheit stand, ohne jedoch zu vergessen, daß jede marktwirtschaftliche Ordnung politischer Voraussetzungen und sozialer Ergänzungen bedarf. Die Soziale Marktwirtschaft hatte den Alternativradikalismus (Kapitalismus versus Sozialismus, Markt versus Staat) überwunden und erfolgreich einen dritten Weg eingeschlagen.
Was ist aus dieser großen Tradition geworden? Um es kurz und polemisch zu sagen: Ein Marktradikalismus, der der FDP, nicht aber der CDU gut ansteht: der Markt als Mythos, die Verkürzung der Sozialen Marktwirtschaft auf eine rein ökonomische Veranstaltung, oft genug auf einen platten Ökonomismus. Die Folgen dieses falschen Denkens sind gegenwärtig in Ostdeutschland zu besichtigen.
Am schlimmsten freilich hat es den Sozialismus erwischt. Sein politischer, wirtschaftlicher und ideologischer Zusammenbruch hat seine Anhänger in eine allgemeine Depression hineingetrieben, ein kollektiver Nervenzusammenbruch ohnegleichen. Das gilt auch für den demokratischen Sozialismus, hierzulande für die SPD. Die Sozialdemokraten haben buchstäblich die politische Sprache verloren. Der frisch gekürte Vorsitzende Engholm macht offensichtlich zum Programm, daß die SPD ganz ohne Politik am besten zu führen sei. Parteireform statt Politikreform. Dieser Verzicht auf Politik hat tiefere Gründe. Der Zusammenbruch des totalitären Sozialismus hat auch den demokratischen Sozialismus in seinem Kern beschädigt und entlegitimiert. Das mußte nicht so kommen, war aber unvermeidlich, als die SPD-Vertreter selbst Berührungsängste auch zu den besseren Teilen ihrer Geschichte und Programmatik (Frieden und soziale Gerechtigkeit) hatten. Schlimme CDU- Plakate („Der Sozialismus geht: Wir kommen“) waren zu verschmerzen, nicht aber die Selbstzweifel in der Seele dieser Partei und ihrer führenden Repräsentanten.
Neue Chancen für die Einheitsgewerkschaft
Die SPD droht, sich zu vergessen. Sie hat sich unnötig ihr politisches Rückgrat brechen lassen. Weil eine böse Utopie gescheitert ist, verzichtet sie, verzichtet Politik überhaupt auf jede Vision. Nach dem Motto: Wer nicht denkt, denkt auch nicht in die falsche Richtung. Wo das Ziel unklar ist, sind alle Wege richtig. Aber mit dem Elend des demokratischen Sozialismus verhält es sich wie mit dem realexistierenden Konservatismus: Sein Scheitern und Versagen ist nicht nur eine private und politische Angelegenheit. Beides ist ein öffentliches Ärgernis und Desaster und die Ursache dafür, daß die Politik in diesem Land hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt.
In dieser Situation, da die Verlegenheit der Parteien nicht zu übersehen ist, eröffnen sich für die Gewerkschaften besondere Chancen, haben sie aber auch eine besondere Verantwortung. Chancen und Aufgabe bestehen darin, jetzt nicht nur — wie schon immer — die soziale Zähmung des Kapitalismus einzufordern und durchzusetzen, sondern insgesamt die soziale Dimension von Politik und Gesellschaft zu thematisieren. Die Gewerkschaften brauchen die Kapitalismuskritik nicht dem Papst zu überlassen. Sie könnten sich bei ihrem fälligen Versuch, Gesellschaft ingesamt zu thematisieren, also nicht nur den produktiven industriellen Bereich, sondern auch die reproduktiven Aufgaben, Dimensionen und Bereiche der Gesellschaft mitzudenken, durchaus und ohne falsche Scham an Karl Marx und an seine Theorie der Entfremdung erinnern und diese aufgreifen und weiterentwickeln. Es gibt Traditionsbestände in Geschichte und Theorie des Sozialismus, die zu bewahren sind.
In der gegenwärtigen Lage entwickeln sich Chancen, die unterschiedliche Ströme des sozialen Denkens und der Arbeiterbewegung neu zu bündeln. Ich denke dabei vor allem an das Bündnis zwischen christlich-sozialem und freiheitlich- sozialistischem Denken. Wie die Enzyklika Centesimus annus eindrucksvoll darlegt, bedeutet christlich-soziale Botschaft immer auch eine Absage an den Kapitalismus. Christlich-sozial: das ist stete Anfrage und Anklage, daß eine freie noch nicht automatisch eine faire, eine liberale noch keine gerechte Gesellschaft ist. Es ist die Mahnung, den Menschen nicht hinter der Verwaltung von Sachen zu vergessen und ein Unternehmen nur durch Kapital und Maschinen zu definieren. Was gut ist für die Wirtschaft, muß noch lange nicht gut sein für die Menschen und für die Gesellschaft.
Katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik werden stets unbequem sein, weil sie die Gesellschaft mit ihren besseren Möglichkeiten, mit ihren sozialeren Alternativen konfrontieren. Dies gilt insbesondere in einer Zeit, da die Freiheit vielerorts triumphiert, Gerechtigkeit und Solidarität aber allzu oft Not leiden. Und auch der demokratische Sozialismus hat in schmerzlicher historischer Erfahrung seine Lektion gelernt. Die Zeit ist reif für eine neue Gemeinsamkeit.
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