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Man spricht deutlich

■ Leander Haußmann & „Fräulein Julie“ in Frankfurt

Aus Kunsteisnebeln taucht ein spärlich möbliertes Zimmer auf, wie aus dem Unterbewußtsein. Ein großes Fenster rechts, eine Tür nach außen, eine Wendeltreppe, kahle Wände, weiß getüncht. Von außen dringt gedämpft die Tanzmusik des Mittsommernacht-Festes herein. Auf schwarzen Stühlen sitzen fünf junge Frauen in weißen Kleidern und mit Blumenkränzen im Haar: Ein fast kitschiges Bild der Unschuld.

Da sitzen sie also und tuscheln miteinander. Über was wohl: die Liebe. Nur Wortfetzen sind zu hören, doch schnell wird klar: Klara, eine von ihnen, ist unsterblich in den Diener Jean verliebt. Aber der scheint ihre Liebe nicht zu erwidern. Warum sonst sollte sie so bitterlich weinen?

Leander Haußmann zeigt von Beginn an, daß er den Blickwinkel in Strindbergs Fräulein Julie verschoben hat. Die Mädchen tauchen im Text nur im Dialog auf. Daß Haußmann sie leibhaftig auf der Bühne braucht, ergibt sich aus seiner Lesart des Stücks: Wie ein stummer Chor werden sie das gesamte Stück hindurch die Handlung begleiten und mit ihren entsetzten Blicken lautlos kommentieren. Kein Zweifel: Die Tragödie der Liebe, die es nicht gibt — an ihnen kann man sie ablesen. Die Protagonisten aber spielen vor ihren Augen die Komödie lächerlicher Menschen.

Als August Strindberg 1888 sein Fröken Julie geschrieben hatte, da war das Stück des Bürgerschrecks Anlaß zu heftigen Diskussionen. In der Mittsommernacht kommen sich der Diener Jean und die Tochter seines Dienstherren, Julie, näher und näher. Aber eben nicht nah: Denn sie gehören zwei verschiedenen Klassen an. Jean ist ein Tagelöhner, der nach oben will. Eines Tages wird er selbst Herr sein statt Diener. Er sagt, was ihm nützt und nicht, was wahr ist. Er ist skrupellos und eingebildet. Einzig seine tiefsitzende Ehrfurcht vor Julies Vater hindert ihn noch daran, seinen Aufstieg noch konsequenter voranzutreiben. Er ist der Vorbote einer Klasse, die eine neue Ordnung begründen wird. Ganz anders Julie: Sie ist eine verzogene Männerhasserin aus einer absterbenden Klasse. Sie kämpft zwar gegen den Abstieg, doch aufhalten kann sie ihn nicht. Auch weil sie eine Frau ist: Die seien, fand der Sozialdarwinist Strindberg, dem Manne sowieso unterlegen — körperlich wie intellektuell. Als Beweis für seine dumpfe These kreierte er die dritte Person seines Einakters. Die Köchin Christine ist die Verlobte Jeans und an frömmelnder Einfalt kaum zu überbieten.

Haußmann nun beschränkt sich fast völlig auf die Beziehungsgeflechte zwischen Julie, Jean und Christine. Die gesellschaftskritischen Ansätze Strindbergs läßt er allenfalls mitlaufen, und das wohl eher, weil sie nicht ganz zu tilgen sind. Interessiert hat ihn etwas anderes: die Unfähigkeit dieser Menschen, miteinander umzugehen. Dafür ist ihm die extremste Darstellung gerade gut genug — die Protagonisten werden zu ihren eigenen Karikaturen zurechtgestutzt.

Geile Gestalten sind das: Julie will mit Jean vögeln. Und Jean mit Julie. Nur darum geht es. Jean läßt es an eindeutigen Gesten nicht fehlen. Da greift er Christine schon mal mit Schwung zwischen die Beine oder klemmt sich die Weinflasche zwischen die Schenkel und läßt die Hand feist grinsend an ihr auf- und abgleiten. Julie tauscht schnell ihr unbefleckt weißes Kleid gegen ein männermordend rotes Modell, in dem sie Jean gierig hechelnd umtanzt. Wollüstig stöhnend rutscht sie bäuchlings das Treppengeländer herunter, um am Ende Jean in den Schoß zu purzeln. Lange bevor sie tatsächlich mit Jean schlafen wird, hat sie ihn schon mit den Augen genommen. Wenn sie lasziv mit ihrer Zunge über die Lippen fährt, dann bleiben keine Fragen mehr, auch nicht bei Jean. Der ist ein großmäuliger Schwätzer und spielt sich selbst, aber schlecht. Mal gibt er den Mann von Welt (man parliert französisch), mal den erregten Toren.

Christine leidet still vor sich hin und sieht zu — bevor sie sich allein ins Bett legt und den beiden den Spiel-Platz vorübergehend überläßt. Sie läßt sich gefallen, was ihr auch körperlich Schmerzen bereitet. Einmal steht sie wie ein erschrecktes Kind an die Wand gepreßt und belauscht Jean und Julie. Ein anderes Mal krümmt sie sich embryogleich auf dem Boden, unfähig, etwas zu tun.

Haußmann entzaubert in seinem Spiel diese Menschen, die wahrhaft außer sich sind. Nichts ist echt: Nicht was sie tun, nicht was sie denken, nicht was sie fühlen — wenn sie das überhaupt können. Einmal nur tauschen Jean und Christine einen Blick, der ahnen läßt, daß sie ihre Sehnsüchte noch nicht ganz vergessen haben. Da wird Jean schon mit Julie geplant haben, in die Schweiz zu gehen und dort ein Hotel mit ihr zu eröffnen — so, als könnte die Flucht aus der bekannten Umgebung etwas ändern an den Verhältnissen. Dieser Blick scheint zu zeigen, daß allen klar ist, daß es nur eine Flucht vor sich selbst geworden wäre. Doch dieser Blick ist ein flüchtiger — konsequenterweise.

Haußmann betreibt seine Entzauberung mit einem Hang zu Unsinn, zu Klamauk. Wenn Julie und Jean ihre nie stattfindende Reise in die Schweiz planen, tönt plötzlich Hans Albers aus dem Plattenspieler und singt vom Kapitän, der ihn mit auf die Reise nehmen soll. Jean, mit seinem Sommerhut, der Nickelbrille und der goldgelackten Gitarre, sieht aus wie Strindberg als Wandervogel; den kann keiner ernst nehmen. Und wenn die beiden Frauen und der Mann zusammensitzen und in wundersamer Eintracht Ganz Paris träumt von der Liebe mitsummen, dann lacht das Publikum über diese Gestalten, es lacht sie aus — und merkt kaum, daß es auch über sich selbst lacht. Doch manchmal überspannt Haußmann den Bogen. Da ist ihm kein Kalauer zu schade — leider. Vor allem der grandiose Matthias Brenner als Jean nutzt die Freiheiten, die Haußmann ihm gegeben hat, weidlich aus.

Die Qualität der Aufführung kann das trotzdem kaum schmälern: Lange hat man in Frankfurt kein so gutes Theater mit solch hervorragenden Schauspielern wie Martina Schumann (Julie) und Steffi Kühnert (Christine) gesehen. Und Matthias Brenner eben.

Am Ende ist die Bühne in rotes Licht getaucht, aus den Lautsprechern kommt Melanies Nickel-Song, und Jean und Julie wollen gerade Hand in Hand das Zimmer verlassen. Julie hätte sich — so wollte es Strindberg — eigentlich umbringen müssen. Nicht einmal das ist ihr gelungen, obwohl sie das Messer schon angesetzt hatte. Fast ist man schon überzeugt, daß dieses Spiel einen allzu leichtfertigen Schluß erfährt, da kommt, was kommen mußte. Die Mädchen tragen Klara ins Zimmer und legen sie sanft auf den Boden. Sie hat getan, was Julie hätte tun sollen. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Auch wenn Jean ein Scheusal war: Ihre unerwiderte Liebe konnte sie nicht länger ertragen. Achtlos hatte er zuvor einen Liebesbrief Klaras zerrissen, ohne sich lange mit dem Lesen aufzuhalten. Da stehen sie nun und schauen doch noch irritiert, ganz am Ende. Doch ob Julie und Jean etwas begriffen haben? Kaum zu glauben. Die melancholisch ins Leere starrende Christine hatte Jean kurz zuvor mit einem dahingebellten Satz begrüßt, den Strindberg wohl nur gedacht hat: „Na, du Votze.“Jörg Rheinländer

August Strindberg: Fräulein Julie . Regie: Leander Haußmann. Bühne: Franz Havemann. Mit Steffi Kühnert, Martina Schumann, Matthias Brenner. Eine Koproduktion Kammerspiel Frankfurt/Main mit dem Nationaltheater Weimar.

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