: Solschenizyn zur Rückkehr nach Rußland bereit
Der sowjetische Generalstaatsanwalt Trubin sieht für den Vorwurf des Landesverrats „keine Beweise“/ Solschenizyn beharrt auf einem spezifisch „russischen“ Weg / Alle politischen Kräfte Rußlands beziehen sich auf den ehemals Ausgestoßenen ■ Aus Berlin Erhard Stölting
Berlin (taz) — Der bedeutende russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn hat am Dienstag öffentlich angekündigt, er wolle nach Rußland zurückkehren. Er reagierte damit auf die Erklärung des sowjetischen Generalstaatsanwaltes Nikolaj Trubin, daß die auf „Landesverrat“ lautende Anklage zurückgezogen werde. Sie habe sich nach einer Prüfung der Akten als gegenstandslos erwiesen. Der gegenwärtig in Cavendish im amerikanischen Bundesstaat Vermont lebende Schriftsteller erklärte: „Ich habe seit langem gesagt, daß ich nach Rußland zurückkehren werde; und dabei bleibt es. Ich werde nicht immer hier leben.“
Der heute 72jährige Solschenizyn hatte 1962 mit der Lager-Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowoitsch die literarische Entstalinisierung eingeleitet. Danach veröffentlichte er in der Sowjetunion nur noch einige wenige Erzählungen. Die späteren Werke Krebsstation und Der erste Kreis der Hölle erschienen nur im Westen. 1970 erhielt Solschenizyn den Literaturnobelpreis. Die sowjetische Führung tobte. 1974 schließlich wurde er ausgebürgert und zwangsweise aus der Sowjetunion ausgeflogen.
Nach einer Zwischenstation bei Heinrich Böll lebte Solschenizyn zurückgezogen in Vermont und widmete sich vor allem seinem historischen Zyklus Das rote Rad, von dem bislang die Bände Knoten, August Vierzehn und November Sechzehn erschienen sind. Im Juli 1989 erklärte Solschenizyn, er werde vor dem Abschluß dieses Zyklus nicht in die Sowjetunion zurückkehren, sonst „wäre ich stumm“.
Die offizielle Rehabilitierung begann spät. Noch 1988 wandte sich der damalige Chefideologe der KPdSU, Wadim Medwedjew, gegen eine Rückkehr Solschenizyns. Die Literaturzeitschrift 'Nowyj Mir‘, die Teile von November Sechzehn gedruckt hatte, durfte nicht ausgeliefert werden. Den Durchbruch erzielte die Illustrierte 'Ogonjok‘ 1989 mit dem Abdruck der Erzählung Matrjonas Hof. 1990 fielen die letzten Restriktionen. Am 15. August 1990 erhielt Solschenizyn durch ein Dekret Präsident Gorbatschows seine Staatsbürgerschaft zurück. Er lehnte aber eine Einladung von Rußlands Premier Silajew ab, solange das Verfahren gegen ihn wegen Landesverrats nicht eingestellt sei.
Anlaß der Ausbürgerung war der Archipel Gulag gewesen, in dem Solschenizyn die Schrecken des stalinistischen Lagersystems umfassend dargestellt hatte. Geschmuggelte Exemplare durchbrachen in der Sowjetunion erstmals die Informationsblockade über die Vergangenheit.
Als Schriftsteller, der mit seinen Werken politisch eingreifen will, steht Solschenizyn in einer typisch russischen Tradition. Den Kommunismus sieht er als katastrophalen Einbruch in der russischen Geschichte. Hätte Rußland seine eigene Entwicklung fortsetzen können, hätte es seine eigenen Formen der Selbstverwaltung, wie die Semstwos, weiterentwickelt, wäre es von selbst zur Verwirklichung von Menschenrechten und Demokratie, wenn auch in spezifisch russischer Form, gelangt. Aber ausgerechnet die großen Reformer wie der Bauernbefreier Alexander II. oder Stolypin seien ermordet worden. Schuld daran hätte die russische Intelligenzia, die westliche Ideen schematisch und ohne Kenntnis der Verhältnisse auf Rußland übertragen wollte. Schuld an der Katastrophe sei aber auch die russische Neigung, sich in Träumen und endlosen Diskussionen zu ergehen und dann Schwierigkeiten gewaltsam überspringen zu wollen, statt konkrete Pläne auszuarbeiten, zu planen und sie in beharrlicher Arbeit zu verwirklichen. Dieser Charakterzug sei verantwortlich für die Katastrophe von 1917 gewesen; er trete leider jetzt wieder, in der Phase des Zusammenbruchs des Kommunismus, zu Tage.
Einen Paukenschlag bedeutete ein Manifest, das 1990 in den Zeitungen 'Komsomolskaja Prawda‘ und 'Literturnaja Gaseta‘ abgedruckt wurde. Solschenizyn plädierte hier für die Auflösung der Sowjetunion; nur die RSFSR, Weißrußland und die Ukraine sollten in einer „Russischen Union“ (Rossijskij Sojus) zusammenbleiben. Dazugehören sollte auch das überwiegend russisch besiedelte Nord-Kasachstan. In der Ukraine, wo es eine starke separatistische Bewegung gebe, sollte Gebiet für Gebiet abgestimmt werden; denn niemand dürfe gegen seinen Willen gehalten werden. Es kam zu wütenden Protesten gegen Solschenizyn in Kasachstan. Enttäuscht und verbittert äußerten sich auch die Unabhängigkeitsbewegungen der Ukraine und Weißrußlands.
Die weitere Entwicklung Rußlands solle den Westen nicht einfach kopieren, sondern soweit noch vorhanden, auf eigene Traditionen zurückgreifen. Mehrfach hatte Solschenizyn schon in der Zeit des Exils Pluralismus mit Anarchie und Liberalismus mit Zügellosigkeit gleichgesetzt; allerdings habe er damit nur gegen ihre Verwirklichung im Westen, nicht gegen die dahinter stehenden Prinzipien Stellung bezogen. Bislang wird Solschenizyn von den liberalen Demokraten bis zu den reaktionären Slawophilen oder den Neobolschewisten reklamiert. Zu keiner politischen Richtung paßt er bisher bruchlos. Seine Autorität ist jedoch sehr groß.
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