: Das ist meine Hochzeit
Zum diesjährigen „Festival der Festivals“ in Toronto ■ Von Marcia Pally
Was dem Filmkritiker lieb ist, gereicht dem Leser zum Nachteil: Die internationalen Filmfestivals von Venedig und Toronto liegen nicht nur fast zeitgleich, sie zeigen mittlerweile überwiegend dieselben Filme. Marcia Pally hat daher bei ihrem diesjährigen Bericht aus Toronto auf ihre geschätzte Meinung zu den Highlights des Festivals verzichtet, soweit von diesen bereits in der Venedig-Berichterstattung dieser Zeitung die Rede war. Auch Filme, die bereits in Cannes liefen und demnächst ohnehin in die deutschen Kinos kommen, seien hier nur zusammenfassend erwähnt: Zu sehen waren in Toronto wie in Venedig Greenaways „Prospero's Books“ und Gus van Sants „My Own Private Idaho“; außerdem liefen „Barton Fink“ von den Coen-Brüdern, Rivettes Vierstundenfilm „La Belle Noiseuse“, Kieslowskis in Frankreich bereits gestartete Produktion „Das doppelte Leben der Veronika“, Volker Schlöndorffs „Homo faber“, und Zhang Yimous „Die Rote Laterne“.taz
Am ersten Samstag des Filmfestivals von Toronto (5. bis 15. September) war das Festivalhotel von sauber geschrubbten Jünglingen im Smoking bevölkert, die sehr beschäftigt wirkten. Ich fragte einen, ob irgendwo eine Filmparty stattfinde (offensichtlich ohne mich) oder ob hier gedreht würde, worauf der junge Mann antwortete: „Nein, das ist meine Hochzeit.“ Vielleicht waren meine Maßstäbe ein bißchen durcheinandergebracht, als ich fragte: „Mitten in einem Filmfestival?“ Worauf er antwortete: „Ihr Festival ist mitten in meiner Hochzeit.“ Soviel zur Voreingenommenheit der Filmkritiker.
Als mittlerweile bedeutendstes Filmfestival Nordamerikas zeigte Toronto in diesem Jahr 215 Features und 71 Kurzfilme aus 43 Ländern. Mit seinem hohen Anteil an hervorragenden Filmen und Publikumslieblingen (Sophia Loren, Jessye Norman, Sean Penn und Jodie Foster, um nur ein paar zu nennen) wird es vielleicht das zeitgleiche Filmfestival von Venedig als den Ort übertreffen, an dem man Filme und Filmemacher am besten sehen kann. Andererseits verfügt Venedig über ein Ambiente; Toronto hat nur Reinlichkeit vorzuweisen.
Die Filme für das Festival von Toronto sucht ein elfköpfiges Komitee aus — es besucht das ganze Jahr über Festivals in der ganzen Welt und trifft seine Auswahl aus dem Angebot Europas, Asiens, des Südpazifiks und beider Amerika. Daraus gewinnt Toronto eine Art Vorauswahl- Funktion, die es auch in seinen offiziellen Titel aufgenommen hat: das Festival der Festivals. Dieser Auswahlprozeß verschafft Toronto wohl einen Vorteil vor anderen Festivalprogrammen — allerdings wird aus dieser Vorauswahl nur dann ein Vorteil, wenn das Komitee vernünftig auswählt. Helga Stephenson, Pierre Handling, David Overbey, Kay Armatage und Dimitri Eipides können das.
Den größten Erfolg konnten in diesem Jahr Atom Egoyans The Adjuster und Barton Fink von den Coen- Brüdern verzeichnen, die größte Fehlentscheidung war die für Greenaways Shakespeare-Verfilmung Prospero's Books. Außer Greenaway bedachte noch ein weiterer Engländer Toronto mit seinem wichtigsten Privatproblem. Derek Jarmans Edward II. ist eine grandiose Bearbeitung des Stücks von Christopher Marlowe, in dem die moderne Verteidigung der Homosexuellen nicht ganz so ausgeprägt ist, wie Jarman das gerne hätte. Obwohl Edward II. im Entwurf schöner ist und auch emotional besser zugänglich, wird dieses politische Anliegen in Jarmans vorherigem Film The Garden weitaus besser vorgetragen.
Edward II. erzählt die Geschichte des jungen Königs, der seinen Freund Gaveston mit Titeln und Reichtümern überhäuft, während er seine Höflinge ebenso demütigt wie seine Frau. Zunächst soll Gaveston nur verbannt werden, dann jedoch lassen sie sich zu einer blutigeren Rache hinreißen. Das Problem liegt darin, daß die zweite Hälfte des Films, wie er von Jarman, Steven McBride und Ken Butler geschrieben wurde, nicht folgerichtig aus dem ersten Teil hervorgeht. Zunächst ist Gaveston ein egoistischer Schuft, der es genießt, eine besiegte Frau und den Hof zu verhöhnen; Edward ist unerklärlich taub für den Spott seines Liebhabers. Nach der ersten Halbzeit des Films verwandelt sich Königin Isabelle in Margaret Thatcher und der Hof in homophobe Epigonen: Das Publikum soll sich darüber erregen, daß homosexuelle Liebe verfolgt wird. Dazu wäre ich gerne bereit gewesen, wenn die Figuren auch nur den Schatten einer zusammenhängenden Motivation aufgewiesen hätten. Jarmans Anliegen wäre besser gedient gewesen, wenn er gezeigt hätte, daß Edwards Hof Gaveston wegen seiner Homosexualität vertrieb und nicht, weil er ein brutaler Kerl war.
Jarman war lange in der Schwulenbewegung aktiv; er verbindet sie explizit mit dieser Geschichte, indem er kurze Szenen aus britischen Schwulendemonstrationen dazwischenschneidet und den Film teilweise als historisches Drama, teilweise als modernes Stück entwirft, in dem die beiden Epochen verbunden sind. Edward II. erinnert an die verblüffenden Anachronismen von Jarmans Caravaggio (1986); der Film spielt zwischen den schmutzigen, primitiven Kulissen des 16. Jahrhunderts, während Kostüme und Accessoires der neuesten Haute Couture entstammen.
Wenn die Briten nicht gerade Jarman bringen, beschäftigen sie sich gewöhnlich mit dem Empire oder mit Foster (E. M., nicht Jodie), was auf das gleiche hinausläuft. Wartet etwa noch irgendeiner von Fosters Notizzetteln, Einkaufs- oder Wäschelisten auf die Verfilmung? Gott sei Dank werden die ersten neunzig Prozent von Where Angels Fear to Tread Foster einigermaßen gerecht. Der allzu glatte und sentimentale letzte Teil war bereits ein Problem im Roman — es war Fosters erster.
Inszeniert von Charles Sturridge (Brideshead Revisited, Eine Handvoll Staub), erzählt Where Angels... die alte Geschichte von der viktorianischen Dame auf Reisen, deren Steifheit unter der italienischen Sonne und dem dazugehörigen Liebhaber dahinschmilzt. Entsprechender Aufruhr daheim. (Noch Jahrzehnte später schrieb Noel Coward zu diesem Thema Songs mit Texten àla: „In einer Bar an der piccola marina/ da kam die Liebe zu Frau Wentworth-Smythe/ schieres Entzücken brach ihres Herzens Eis...“) Der Film ist eine schöne Gesellschaftskomödie und eine ausgezeichnete Satire auf die Oberklasse, besser noch sind die Darsteller Helen Mirren, Rupert Graves und Helena Bonham Carter, die zur Abwechslung einmal mehr zu tun hat, als das süße junge Ding zu markieren. Am besten ist Judy Davis als wundervolle spätviktorianische Prüde.
Zu den hervorstechenden Erscheinungen in Toronto gehörte John Frankenheimer mit The Year of the Gun. In dem Film über die italienischen Roten Brigaden spielen Andrew McCarthy, Valeria Golino, Sharon Stone und John Pankow, er gehört in eine Reihe mit Sieben Tage im Mai, Botschafter der Angst und Gefangene von Alcatraz. Arthur Hiller, dem wir Klassiker verdanken wie Der Mann von La Mancha, Nur für Offiziere und Hotelgeflüster, war mit Married to It vertreten, einer A- Verfilmung eines B-Spruchs der neunziger Jahre: „Sag einfach ja“. Es spielen Cybill Shepherd, Stockard Channing, Ron Silver, Beau Bridges, Mary Stuart Masterson und Robert Sean Leonard, und was sie leisten, übertrifft das Niveau des Films bei weitem. Sheperd ist als bösartige Eisgöttin noch besser als sonst und hat die beste Zeile des Films: Channing meint, auch ein alter Fetzen sähe mit dem richtigen Schmuck immer noch gut aus; daraufhin Shepherd: „Der richtige Schmuck, mein Lieber, wird im Tower von London aufbewahrt.“ David Ambrose heißt der Drehbuchautor: Der Mann gefällt mir.
Ich sollte hinzufügen, daß Toronto neben hervorragenden Filmen auch die besten Kosmetiktips zu bieten hat. Der kanadische Filmemacher John Frizzell (Winter Tan), der mich letztes Jahr darüber belehrte, wie Intellektuelle ihr Haar bleichen sollten, empfiehlt dieses Jahr Gurkenpackungen für die Haut. Frizzell bekam den Tip direkt von Little Richard — als der gefragt wurde, ob Gurkenpackungen die Haut aufhellen und damit die Bräune ruinieren, antwortete er: „Meine hat's nicht aufgehellt.“
Auch die große Komödiantin Lily Tomlin war in der Stadt, mit der Filmfassung ihrer Ein-Personen- Broadway-Show The Search for Signs of Intelligent Life in the Universe. Sie erklärt den Sinn des Lebens in den letzten zwanzig Jahren: Frauen, Männer und Tofu. Nur wenige Drehbücher sind so ausgefeilt wie die von Jane Wagner, die einige meiner Lieblingszeilen des zeitgenössischen Theaters geschrieben hat, zum Beispiel: „Mein ganzes Leben lang wollte ich wer sein, aber jetzt merke ich, daß ich ein bißchen genauer hätte sein müssen.“ Oder: „Bob war ein so sensibler Mann — außer ihm kenne ich keinen Mann, der wußte, wo er war, als Sylvia Plath starb.“ Oder: „Wenn ich gewußt hätte, was es bedeutet, alles zu haben, wäre ich mit ein bißchen weniger zufrieden gewesen.“
Die Regiedebüts von Jodie Foster und Sean Penn — beide tragen autobiographische Züge — sind mehr als nur respektabel. Fosters Little Man Tate handelt von einem begabten Kind (Adam Hann-Byrd, ein Junge mit dem Gesicht eines Präraffaeliten) und dem ständigen Tauziehen zwischen seiner liebenden, aber bescheuerten Mutter (Foster) und der distanzierten Wissenschaftlerin (Dianne Wiest), die das Kind aus seiner Langeweile befreit. Tate bezieht sich auf Fosters eigene frühreife Kindheit, Scott Frank hat ein schmissiges Drehbuch geschrieben, die Kamera ist lebendig geführt, aber die Frauen sind zu sehr schematisiert. Frauen sind einfach unglaubwürdig, wenn sie nur Körper oder nur Verstand haben.
Sean Penns Indian Runner erzählt eine Kain-und-Abel-Geschichte, inspiriert von Bruce Springsteens Highway Patrolman. Der eine Bruder (David Morse) ist ein ungewöhnlich nachdenklicher Polizist und Familienvater, der andere (Viggo Mortenson) ein Vietnam-Veteran, dessen Lebensart sich in billiger Gewalt erschöpft. Interessanter als die Lektion über brüderliche Moral ist Penns Regie, vor allem die Bilder, mit denen er Szenen einleitet und abschließt, und die Szenen, mit denen er die Handlung einleitet und abschließt. Seine Skizze der ausgelaugten Kleinstädte Amerikas ist ebenfalls ungewöhnlich präzise. Indian Runner hat leider einen sehr schwachen Schluß: ein autobiographisches Heirats- und Familienfinale (Penn und seine Frau, die Schauspielerin Robin Wright, bekamen dieses Jahr eine Tochter). Als Filmemacher wird Penn trotzdem noch von sich reden machen.
Wenn die französischen Regisseure heutzutage etwas gut machen, dann machen sie es wirklich gut. Der wunderbar schelmische Delicatessen von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro spielt in einem heruntergekommenen Mietshaus, dessen Bewohner eine Mischung aus dem dämonischen Friseur von Fleet Street und den Gestalten aus der Rocky Horror Picture Show darstellen; sie tun sich mit dem Metzger im Erdgeschoß zusammen, um Fleisch aus dubiosen Quellen zu beschaffen. Da sie Franzosen sind, behandeln Jeunet und Caro dies weder als Horrorfilm noch als Thriller, sondern als Komödie: Delicatessen erzählt die Geschichte aus der Perspektive des Hackklotzes ebenso wie der des Fleischermessers, des Abflußrohrs, der Schaltung, der Federung, des Vergasers und des Verbrennungsofens. Man hat das Gefühl: So hätte es Buster Keaton gemacht, wenn er sich mit den Vegetariern angelegt hätte.
Die Belgier sind mit Jaco van Dormaels Toto der Held aus der filmischen Vergessenheit hervorgetreten. Gewinner der Goldenen Kamera in Cannes, befaßt er sich mit der Vorstellung alternativer Lebenswege: Ein alter Mann behauptet stur, er sei in der Wiege mit dem reichen Jungen von nebenan verwechselt worden, und dessen Leben habe eigentlich ihm zugestanden. Er glaubt auch, die einzige große Liebe seines Lebens habe irgendwie die gleiche Seele oder das gleiche Wesen gehabt wie seine geliebte ältere Schwester, die als Kind gestorben war. Van Dormael läßt die unheimliche Idee der übertragenen Seele in einen Wirrwarr von Erinnerungen an Kindheit und Jugend münden und setzt das Ganze in einen komischen Gegensatz zu den griesgrämigen Rachevorstellungen des alten Mannes. Am Schluß bietet Toto den Kindheitszauber von Mein Leben als Hund und die atemberaubende Leidenschaft jener großen Schlußszene von Doktor Schiwago, als Schiwago durch das Fenster eines vorbeifahrenden Busses seine verlorene Laura sieht, aber nicht erreichen kann.
Schließlich tauchte in Toronto ein neues Genre auf: die Hommage an die lebenslustige alte Dame. In Paul Cox's A Woman's Tale bietet Sheila Florance, eine der großen Schauspielerinnen Australiens, eine inspirierte Darbietung als eine Frau à la Katharine Hepburn, die an Krebs stirbt und das Leben mehr liebt als junge Menschen. Ihre Tirade gegen die Weltherrschaft der Nichtraucher ist ein mutiger erster Hinweis auf die Rache der Raucher, die — und das weiß inzwischen jeder Trottel — nur noch eine Frage der Zeit ist. Thank You and Goodnight von der US-Filmemacherin Jan Oxenberg läßt sich als die Dokumentarversion von A Woman's Tale begreifen, mit einem Porträt der Großmutter der Regisseurin und den Fragen angesichts des Todes — so klug der Frager auch sein mag, sie sind kindlich in ihrer Ohnmacht und der Unmöglichkeit, jemals eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten. Frau Oxenbergs Großmutter aus Brooklyn jammert ein kleines bißchen mehr als Frau Florance.
Keine Verbeugung vor den Älteren wäre vollständig ohne Jeanne Moreau, die zusammen mit einem weiteren Veteranen des franzöischen Kinos, Michel Serrault, in La Vielle qui marche dans la mer die Hauptrolle spielt. Der Film über eine alte Frau, deren Eleganz nur durch ihre Begabung im Stehlen übertroffen wird, steht und fällt mit dem Gegensatz zwischen Moreau, die vierzig Jahre lang Maßstäbe für Damenhaftigkeit setzte, und ihrer unglaublichen Gossensprache, die sich schlechterdings nicht wiedergeben läßt. Wjatscheslaw Krichtofowitschs Adam's Rib ist eine der feineren neuen Satiren auf das sowjetische Leben. Am Tagesablauf einer tyrannischen und bettlägerigen Großmutter, ihrer Tochter (der emphatischen Inna Tschurikowa) und zweier erwachsener Enkelinnen legt der Film behutsam nahe, daß die Frauen auch in der großen egalitären Utopie noch immer die gesamte Verantwortung für Geburt, Leben, Pflege und Tod tragen. Und die Arbeit haben sie natürlich auch.
Jeder dieser Filme hat mir gut gefallen, aber am besten gefiel mir in Toronto ein Titel: „Wie man als Frau geboren wird, ohne dabei umzukommen.“
Aus dem Amerikanischen
von Meino Büning
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