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Splittern — die neue Randaletaktik

■ Abenteuerspielplatz SO36: Die Polizei ist der »Kreativität« der Autonomen ausgeliefert

Kreuzberg. Das Schauspiel »Straßenschlacht«, aufgeführt am 3. Oktober in Kreuzberg, ist wirr. Insider wissen, hier wird nach der »Splittertaktik« gearbeitet, Autonome binden durch Aktionen Polizeikräfte an einer Stelle, um an anderer Stelle agieren zu können. Auch die Polizei benutzt diese Methode, um Schaulustige zu zerstreuen und Autonome zu isolieren. An diesem Donnerstag benutzen beide die gleiche Strategie, Punktsieger bleiben die etwa 600 Aktivisten, darunter viele türkische Jugendliche, die zwischen sechs und neun Uhr abends durch die schmalen Straßen zwischen Moritzplatz und Görlitzer Bahnhof zum Abenteuerspielplatz ziehen. Obwohl die Polizei 59 Personen festnimmt, behalten die Autonomen das Heft in der Hand, weil Tausende von Sympathisanten sie schützen. Vor allem die türkische Kreuzberger Bevölkerung tut es.

Ein Beispiel: Die Ecke Manteuffel-/Naunynstraße um 19 Uhr. Unter anfeuernden Rufen einiger hundert Statisten und unter den Augen faszinierter Balkonglotzer räumt eine kleine Gruppe vermummter Autonomer Bauschutt und Sperrmüll auf die Straße. Schon brennt es lichterloh. Die Polizei fährt mit tatütata auf, blutjunge Polizisten drehen sichtlich zufrieden an ihren Wasserwerferschaltpulten die Spritzhörner Richtung Barrikade auf, löschen und rattern über den jetzt kokelnden Müll. Ein Steinhagel empfängt die ausschwärmenden Hundertschaften, die Polizei kontert mit Tränengaskartuschen. Sekunden später steht die Straße unter Wasser, dichter, beißender Tränengasnebel hängt in der Luft, die Akteure, die sogenannten »Kreativen«, jagen zurück, sind strategisch im Vorteil, denn sie kontrollieren das Hinterland, verschwinden in Nebenstraßen. Die Polizei brettert in die von Tränengas vernebelte Straße hinein, an anderen Stellen wischen sich ungehindert die Provokateure die naßgeweinten Augen sauber.

Es ist ein Straßenkampf nach Schema — dezentralisiert, schnell und heftig. Während die Polizei noch die Manteuffelstraße absucht, die Wasserwerfer und Räumfahrzeuge sich gegenseitig blockieren, flammen neue Barrikaden am Lausitzer und am Moritzplatz, am Görlitzer Bahnhof und in der Mariannenstraße auf. »Eine geile Schlacht«, kommentieren Zuschauer. Keiner bemüht sich um einen politischen Grund für die Randale. Es ist eben ein »Feiertag«. Mindestens 5 Bauwagen verbrennen, 21 Autos werden nach Polizeiangaben beschädigt, die meisten allerdings durch die panisch herumfahrenden Räumfahrzeuge der Polizei. Die »Kreativen« bemühen sich »bürgerfreundlich« zu agieren. Barrikaden werden weggeräumt, wenn Opel-Manta-Fahrer durchwollen, »nicht die Spießer, sondern die Bullen sind die Gegner«, heißt es. Geschäfte werden nicht geplündert, nur eine Scheibe splittert. »Scheiße«, sagt einer, »das ging daneben.« Rührende Szenen sind zu sehen. Ein 70jähriger, bewaffnet mit Krückstock, stellt sich ganz allein gegen die anrückenden Wannen. Ein blutjunger Fighter rennt herbei, nimmt den Alten vorsichtig an die Hand. »Komm Opa«, sagt er, »ich geb dir ein Bier aus«, denn, »bevor dir was passiert, sterbe ich lieber selber.« Am Heinrichplatz öffnen sich immer wieder die Hoftüren für vorbeirennende Demonstranten. »Aber keine Steine mitbringen«, sagt eine Frau als Bedingung und tastet resolut die Körper ab. »Sind doch alles nur Kinder«, erklärt sie ihre Kollaboration. aku

Siehe Kommentar Seite 35

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