: Prozeß um tödliche Messerstiche in S-Bahn
Moabit. In einer Zeit pogromähnlicher Stimmung gegen ausländische Mitbürger begann gestern vor dem Berliner Landgericht der Prozeß gegen den 22jährigen Ayhan Ö. Die Staatsanwaltschaft legt dem in der Türkei geborenen und in Berlin aufgewachsenen Mann Totschlag zur Last. Er soll im November 1990 in einem S-Bahn Waggon in Marzahn bei einer Auseinandersetzung mit einer Gruppe rechtsradikaler Deutscher den 21jährigen Baufacharbeiter Rene G. Mit einem Messerstich in den Kopf getötet und zwei weitere Männer schwer verletzt haben. Rene G. War Mitglied der »Republikaner«. Seine Eltern, die in dem Prozeß Nebenkläger sind, werden von dem früheren Landesvorsitzenden der »Republikaner«, Carsten Pagel, vertreten. Ayhan Ö., der in der Tatnacht mit zwei türkischen Freunden und zwei deutschen Freundinnen unterwegs war, beruft sich auf Notwehr: er sei von den Rechtsradikalen in der S-Bahn mit ausländerfeindlichen Parolen provoziert, geschlagen und mit Gaspistolen bedroht worden.
Zeitgleich forderten vor dem Kriminalgericht gestern vormittag rund 300 Menschen auf einer lautstarken Kundgebung »Freiheit für Ayhan Ö.«. An der Veranstaltung, die von der Türkischen Kommunistischen Partei mitinitiert worden war, beteiligten sich sehr viele junge ausländische SchülerInnen. Bei der anschließenden Demonstration kam es nach anfangs ruhigem Verlauf zu Stein- und Flaschenwürfen und einer Auseindersetzung mit der Polizei. Acht Personen wurden festgenommen. Zu Beginn des Prozesses betonte der Verteidiger Friedhelm Enners, daß sein Mandant nichts mit der Solidaritätsaktion vor dem Gericht zu tun habe. Ayhan Ö. billige weder die Sprache noch den Inhalt der Flugblätter und habe auch zu keinen Spendenaktionen für sich aufgerufen. Anschließend schilderte Ayhan Ö., der im vergangenen März von weiterer U-Haft verschont worden war, wie es aus seiner Sicht zu dem tödlichen Vorfall in der S-Bahn gekommen war: Er sei mit seinen zwei türkischen Freunden und zwei deutschen Freundinnen von Marzahn mit der S-Bahn zu einer Diskothek unterwegs gewesen. Am Bahnhof Springfuhl seien sechs bis sieben maskierte Deutsche zugestiegen. Sie hätten ihn eingekreist, laut »Heil Hitler« und »Deutschland den Deutschen« gerufen, ihn getreten und mit Pistolen bedroht. Bei dem Ausspruch »Türke, ich knalle dich ab«, sei er in Panik geraten. Wann und wie er zugestochen habe, wisse er nicht.
Der 21jährige kurzgeschorene Gordon P., der mit dem Messer verletzt worden war, konnte sich an keine Vermummung und ausländerfeindlichen Sprüche erinnern, noch daran, daß er oder seine deutschen Kumpel Ö. angeriffen hätten. Er wußte nur, daß der Angeklagte plötzlich aufgesprungen sei und »einen nach dem anderen niedergestochen« habe. Der 22jährige kurzgeschorene Maurer Andreas L. aus Marzahn bestätigte immerhin, daß sich Rene G. über die deutschen Frauen mokiert habe, die sich »mit Kanaken« abgäben. Auf die Frage, ob er oder seine Kumpel tätlich geworden seien, verweigerte L. die Aussage. Der Prozeß wird am Donnerstag fortgesetzt. plu
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen