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Die Inkonsequenz des Tageskritikers

Filmkritiken von Willy Haas  ■ Von Gerhard Midding

Willy Haas' Arbeit als Filmkritiker war während der Weimarer Republik hoch geschätzt und äußerst einflußreich. Seither jedoch steht sie im Schatten des Triumvirats Arnheim, Baláz und Kracauer. In Vergessenheit geriet er indes nie: Als Herausgeber der 'Literarischen Welt‘ und später als langjähriger Kolumnist der 'Welt‘ (unter dem Pseudonym „Caliban“) genoß er einen geradezu legendären Ruf. Nun liegen seine weitverstreuten Filmkritiken erstmals in einer Edition versammelt vor.

Wolfgang Jacobsen, Karl Prümm und Benno Wenz haben eine Auswahl aus gut 300 Texten getroffen, in denen sich Haas als scharfsichtiger Augenzeuge des Weimarer Kinos erweist. Das Buch ist das Pilotprojekt einer geplanten Edition mit weiteren Filmkritiken und Essays aus dieser Zeit. Haas hat sie fast von Anfang an begleitet, sein Schaffen beginnt mit dem schnellebigen Inflationskino und klingt aus in der Tonfilmära. Seine Texte lassen die heroische Epoche des deutschen Films wiederaufleben und eröffnen einen Blick auch abseits des Kanons der großen Namen Lang, Murnau, Mayer und Pabst.

Die Herausgeber haben die Texte nicht chronologisch, sondern nach Themenbereichen gruppiert. Diese Zuordnung ist oft allzu assoziativ, gehorcht einer Logik, die für den Leser schwer nachvollziehbar ist (es ist zwar reizvoll, Flahertys Laiendarsteller-Film Nanook den Schauspielerkritiken zuzuordnen, durch die Stoßrichtung von Haas' Text ist das jedoch keineswegs gerechtfertigt). Meist zahlt sich das editorische Kalkül aber aus: Oft verfolgt die Textfolge Haas' Position zu einem Thema über mehrere Jahre hinweg; mitunter spitzt sie sich zu. Später häufen sich Bekenntnisse des Umdenkens, Revisionen, Variationen.

In seinem einführenden Essay weist Karl Prümm Haas eine Pionierrolle zu. Im 'Filmkurier‘, einem Branchenblatt, das auch für ein kritisches Laienpublikum lesbar wurde, dachte er schon früh über die Aufgaben der Filmkritik nach. Haas schrieb von einem „heiklen Standort“ aus: Als Filmkritiker in einer Zeitung, die von Branchenanzeigen abhängig war, vermied er es dennoch, der Industrie gefällig zu sein. (Eine Positionsbestimmung, die gerade heute von bemerkenswerter Aktualität ist, versuchen doch Verleihfirmen, die Kritik zunehmend zu vereinnahmen.) Prümm macht die spezifischen Arbeitsbedingungen als unmittelbaren Einfluß auf Haas' Stil kenntlich. Der 'Filmkurier‘ erschien täglich, geriet dem Autor somit zur unablässigen Schule der Beobachtung, die „Nachtkritiken“ (welche sofort nach den Premieren geschrieben werden mußten) zeichnen sich durch Spontaneität und Direktheit aus.

Haas war kein sich gönnerhaft gebender Kunstrichter. Ihm war es um die Nobilitierung des vermeintlich trivialen neuen Mediums zu tun. Die vielfältigen Bildungsabenteuer seiner Jugend kamen ihm hier zupaß: Nie war er verlegen darum, das Gewicht einer literarischen Anspielung, eines Verweises auf Musik oder bildende Kunst in die Waagschale zu legen. (Der Anmerkungsteil wird dem Haas'schen Anspielungsreichtum leider nicht gerecht: Bisweilen fehlen Erklärungen, auch wird die Chronologie der Texte nicht immer eingehalten.)

Haas erkannte im Kino die Volkskunst der Gegenwart und forderte von der Filmkritik einen Blick für die Popularität eines Sujets. Er traute sich zu, zwischen den „richtigen“ und den „falschen“ Konzessionen an den Publikumsgeschmack zu unterscheiden. Und er vertraute immer auf die Phantasie des Publikums. Haas erweist sich als politisch hellsichtiger Autor, der die Gefahr der Medienmanipulation durch die Faschisten vorausahnte. Er schrieb Texte voll pazifistischen Furors und begriff seine Epoche als Chance zur Schaffung einer demokratischen Kultur. Haas' Kinoleidenschaft erlosch, als er aus Nazi-Deutschland emigrieren mußte.

Sein am Wiener Feuilletonstil der Jahrhundertwende geschulter Sprachgestus rekonstruiert das Kinoerlebnis auf unnachahmlich suggestive Weise: Auch als Kritiker dachte er in Bildern. Und bei aller Süffisanz des Plaudertons spürte Haas die Nachwelt immerzu im Nacken.

„Es gibt keine fruchtbare Entwicklung ohne fruchtbare Kritik“, konstatierte er. Ganz im Sinne Oscar Wildes sah er die Aufgabe des Kritikers im Dialog mit dem Künstler: Er soll der neuen Kunst, die sich noch in den alten Kulissen aufhält, einen Weg weisen. Der Fachkritiker (an dessen Ausbildung er hohe Ansprüche stellte) soll als Glied der Industrie mitwirken — durchaus auch opponierend. Haas' Drehbucharbeiten für Murnau, Pabst und andere sind ein Indiz dafür, wie weit er an der Verantwortung teilhaben wollte; gleichzeitig schärften diese Erfahrungen seinen Kritikerblick. Er ließ sich anstecken von der Aufbruchstimmung, die in den Ateliers herrschte, wollte an jeder Phase teilhaben, die der Film als werdende Kunst durchlief. Seine Urteile betrachtete er als vorläufig, fortwährend revidierbar. Der Haas'sche Entwurf der Filmkritik war flexibel: „Inkonsequenz ist, neben Genußfreude und Begeisterungsfähigkeit, eine der wichtigsten Voraussetzungen des Tageskritikers.“

Das Buch folgt konsequent der Linie, die sein Titel bereits vorschreibt: Haas als Mitdenker und Mitproduzent. Es weckt aber auch die Neugier auf die unmittelbare Wirkungsgeschichte: Nahmen die Filmkünstler sich seine Ratschläge zu Herzen? Das wäre ein spannendes Gebiet für zukünftige Forschungen.

Willy Haas. Der Kritiker als Mitproduzent, hrsg. von Wolfgang Jacobsen, Karl Prümm und Benno Wenz; Berlin 1991, Edition Hentrich, 36DM

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