piwik no script img

Spielregelnfür einen Militärputsch

■ Hinweis auf das erste Buch des Moskauers Dmitrij A. Prigov

Der Titel von Dmitrij Aleksandrovic Prigovs erstem deutschen Buch ist Programm — Poet ohne Persönlichkeit hat er es überschrieben. Prigov versammelt in ihm einen vielstimmigen Chor unterschiedlichster, in den letzten Jahren entstandener „Textsorten“: Legenden und Märchen, Aussprüche, Aufrufe und Nachrufe, außerdem Briefe und eine Publikumsbeschimpfung (in Form eines Dramas). Peter Urban hat diese Texte — wie immer vorzüglich! — ins Deutsche übersetzt.

Dmitrij A. Prigov, geboren 1940 in Moskau, ist Bildhauer und Schriftsteller. Zusammen mit Andrej Monastyrskij, Lev Rubinstein und Vladimir Sorokin gehört er der Gruppe der „Moskauer Konzeptualisten“ an. Geschult in der avantgardistischen Tradition von Daniil Charms, Alexander Wwedenski und den „Oberiuten“, aber auch des sozialistischen Realismus, gilt ihr ästhetisches Interesse den massenkulturellen Erscheinungen, d.h. den Sprach- und Bilderwelten des sowjetischen Alltags. „Soz-Art“ hat man daher ihre Kunst genannt, „Subversion durch Affirmation“ haben sie selbst auf ihre Fahnen geschrieben.

Wie der jüngere Sorokin versteht sich Prigov als Stimmen-Imitator, als Sprachrohr und Medium — als Poet ohne Persönlichkeit. In unbescheidener Bescheidenheit versucht er, dem Volk seine Stimme zu leihen: „Dichter des gesunden Menschenverstandes“ will er sein. Zur poetischen Methode hat er sich gemacht, die eigene „Persönlichkeit“ abzustreifen. Er schlüpft zu diesem Zweck in fremde, gegensätzliche Verkörperungen — in Maskeraden, die oft auch Doppelgänger-Personagen sind: In seinem berühmtesten Zyklus tritt er als Milizionär, in neueren Gedichten in weiblichen Rollen auf (als „Die alte Kommunistin“ oder „Die Braut Hitlers“). Seine Travestien affirmieren so ironisch die alte Sowjet-Ideologie vom nicht-existenten Individuum.

Auch in Poet ohne Persönlichkeit setzt sich sein „Ich“ aus den Stimmen der „Anderen“ zusammen: In der Art eines kommunistischen Märchenonkels etwa erzählt er Legenden aus der Sowjet-Mythologie. Wie Lenin und Stalin um die Krupskaja buhlten, oder wie die Sowjetunion einmal von den Chinesen überfallen wurde ... Kitschige Ikonen der Sowjet-Geschichte sind das, peinlich-komische Illustrationen der menschlichen, politischen, der literarischen oder sportlichen Überlegenheit bekannter und unbekannter Sowjet-Heroen.

In zwanzig kurzen Erzählungen über Stalin huldigt er — nein: forciert er den Mythos vom auserwählten, christusgleichen Erlöser, dem harten, aber gütigen Landesväterchen, dem Demiurgen einer neuen Gesellschaft. Doch nicht durch Anklage — Prigovs bunte Heiligen-Bildchen entlarvten Stalin mit dessen eigenen Mitteln: durch einen übertriebenen, zugespitzten Personenkult.

Sogenannte „Vorschläge“, „Aussprüche“, Aufrufe“ und „Nachrufe“ führen durch mimetisches Nachschreiben die Redeweisen offizieller Partei-Verlautbarungen ad absurdum. Daß Prigov dabei die Sowjet- Geschichte übers Revolutionsjahr 1917 hinaus in die Vergangenheit verlängert, ist einmal mehr ein Beweis ihrer überhistorischen Größe.

Die Regeln für ein sogenanntes „Rängespiel“ sehen schließlich Anleitungen für den Fall eines Militärputsches vor. Pseudo-logischer, hirnverbrannter können kombinatorische Verfahren nicht sein. Es ist verblüffend: So ähnlich könnte es in den Köpfen der Jenajews, Jasows und Pugos tatsächlich ausgesehen haben. „Der Initiator eines Militärputsches“ — erklärt Prigov das Spiel — „kann beliebig vier Mann auswählen und den Führer herausfordern. Der Führer oder Chef bestimmt eine Mannschaft, an deren Spitze ein Offizier stehen muß, der um einen Rang höher steht als der Führer des Militärputsches. Im gegebenen Fall verläuft das Spiel in einer Runde. Bedingung für den Sieg der Teilnehmer am Militärputsch ist die Summe der Titel, die innerhalb der einen Runde erzielt werden und die höher sein muß als die der regulären Mannschaft ...“ und so weiter.

Als eine Art „Mensch-ärgere- Dich-nicht“ für Fortgeschrittene wäre der Text den Moskauer Putschisten als Gefängnislektüre zu empfehlen!

Wer Gelegenheit hatte, den Autor seine Texte lesen (bisweilen schreien) zu hören, der versteht, was Boris Groys mit dem Begriff der „Seance einer kollektiven Psychoanalyse“ gemeint hat; oder in Prigovs eigenen Worten: „Der aufmerksam Hörende erkennt (...) die Archetypen von Beschwörungen, Ekstasen, Kultgesängen usw., deren strukturbildendes Pathos unsere Gegenwart durchdringt.“

Der Schriftsteller — in Prigovs Selbstverständnis ist er ein säkularisierter Schamane, mit der Fähigkeit begabt, ins kollektive Unbewußte vorzustoßen und die verschütteten Mythologeme der Sowjet-Gesellschaft ans Licht zu holen.

Der lange totgeschwiegene, nur im Samisdat bekannte Prigov hat sich vor längerer Zeit einen Nachruf geschrieben, wie er von seinen Gegenspielern (nicht) hätte formuliert sein können: „Das Zentralkomitee der KPdSU, der Oberste Sowjet der UdSSR und die sowjetische Regierung geben in tiefer Trauer bekannt, daß am 30. Juni des Jahres 1980 in der Stadt Moskau in seinem 40. Lebensjahr Prigov, Dmitrij Aleksandrovic, lebt.“

In der Tat: Die literarischen Metamorphosen des Dmitrij Aleksandrovic haben alles überdauert. Norbert Wehr

Dmitrij A. Prigov: Poet ohne Persönlichkeit. Aus dem Russischen von Peter Urban. Literarisches Colloquium Berlin, 1991. 80 S., DM 20,- .

Die Reihe „Text und Porträt“ des Literarischen Colloquiums wird neuerdings von der Frankfurter Verlagsanstalt vertrieben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen