: Der Schriftsteller als Entdecker
Günter de Bruyn: Jubelschreie. Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten 1991. ■ Von Michael Bienert
Jubelschreie, Trauergesänge — es ist ein irreführender Titel, unter dem Günter de Bruyns Aufsätze aus der Wendezeit jetzt gesammelt erscheinen. Die deutsche Vereinigung hat diesen besonnenen Autor weder in Euphorie versetzt, noch weint er der abgeschiedenen DDR eine einzige Träne nach. Die LeserInnen werden auf Diät gesetzt: Keine Überspitzungen, keine Pointen, kein Witz auf Kosten anderer, keine gewagten Konstruktionen, keine laute Selbstdarstellung — kurz, alles was uns die Essayistik sonst so lieb und unterhaltsam macht, fällt hier weg. Stattdessen ein leiser, unaufdringlicher Ton, von dem ein sanfter Zwang zur Vernunft ausgeht.
Wie kommt es, daß dieser Autor, anders als die meisten seiner Kollegen aus dem aufgelösten DDR- Schriftstellerverband, inmitten der emotional aufgeheizten Debatten um die deutsche Vereinigung immer einen kühlen Kopf behalten hat? Wie kommt es, daß er nicht verstört ist über den Zusammenbruch der vertrauten Lebenswelt, sich nicht zur Trauerarbeit genötigt fühlt, keine alten Rechnungen begleichen will und nicht von Zukunftsängsten gequält wird? Offenbar ist es ihm lange vor dem Zusammenbruch der DDR gelungen, sich innerlich völlig unabhängig vom Staat und seiner Ideologie zu machen; so sehr, daß ihn dessen Verschwinden nicht aus der Fassung bringt. Das auch unter DDR- Oppositionellen verbreitete Wir-Gefühl hat de Bruyn nie geteilt. Die Existenz des Staates DDR verbürgte ihm keinerlei Sicherheit, Identität und geistige Orientierung. In seinen Prosawerken aus den letzten zwanzig Jahren ging es letztlich immer um die Frage, wie man in einem System, das zur Verlogenheit genötigt, dennoch ehrlich und integer bleiben kann. Dieses Thema hat sich mit dem Ende der DDR nicht erledigt, es stellt sich genauso in der neuen Bundesrepublik. Während andere Autoren verstummt sind, weil die Prämissen, unter denen sie gelebt, gedacht und geschrieben haben, von der Realität entkräftet wurden, hat sich de Bruyn schon in DDR-Zeiten einen Standpunkt erarbeitet, von dem er gelassen die Jüngstvergangenheit und die Gegenwart übersehen kann.
Dieser Standpunkt ist — nicht erschrecken! — ein nationaler. De Bruyn umreißt ihn mit Hilfe des altmodischen Begriffs der „Kulturnation“. In ihr, nicht in der DDR, fühlte er sich in den letzten zwanzig Jahren zu Hause, aus ihren Traditionen heraus und für sie hat er als Schriftsteller gearbeitet. Zunächst handelte es sich dabei um eine „Schutz- oder Hilfskonstruktion“, mit der er sich von der in der DDR propagierten These distanzierte, es gebe zwei deutsche Kulturen und Literaturen, von denen die eine der anderen um eine Geschichtsepoche voraus sei. Er schreibt: „Wenn ich von deutscher Kulturnation rede, drücke ich damit aus, daß ich, erstens (was sich von selbst versteht) kulturelle Bindungen für stabiler als staatliche halte, und, zweitens, daß mir Kultur verehrungswürdiger und wichtiger ist als der Staat. Dieser kann die Kultur (die vor ihm da war und ohne ihn da wäre) zwar schützen, hegen, pflegen oder auch unterdrücken, sie aber nicht machen; er ist für sie da, sie aber nicht für ihn ... Deutsche Kulturnation bedeutet also in diesem Sinne eine Souveränität, die der der Staaten nicht untergeordnet ist.“
Weil die Kulturnation in vierzig Jahren bewiesen hat, daß sie auch ohne staatliche Einheit zusammenhält, hat sich de Bruyn Anfang 1990 gegen eine überstürzte staatliche Vereinigung ausgesprochen. Die Erfahrung der kulturellen Einheit der Deutschen wird von ihm nicht konservativ oder gar nationalistisch ausgelegt. Für ihn ist sie ein „Gegenpol zu einem Denken, das als Voraussetzung für das Weiterbestehen der deutschen Kultur den einheitlichen Nationalstaat sieht“.
Wenn de Bruyn von der Kulturnation redet, denkt er nicht an einen monolithischen Block, sondern an ein vielschichtiges Gewebe verschiedener Traditionen und Lebensformen, zusammengehalten durch die gemeinsame Geschichte, Sprache, Verwandtschaften, Mentalitäten. Entsprechend sollte ihr staatliches Gehäuse aussehen: föderalistisch und demokratisch. Ihre Wurzeln liegen nicht im Nationalismus des 19. Jahrhunderts, sondern früher, in der Epoche der Aufklärung, als sich zuerst ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Intellektuellen der deutschen Kleinstaaten herauszubilden begann.
Was es konkret heißt, sich als Schriftsteller der Kulturnation zu begreifen, führen die einzelnen Essays des Buches aus. Ein Drittel nehmen zwei Aufsätze über Fontane ein, Modelle für eine liebevolle und dennoch kritische Aneignung der Tradition ohne ideologische Scheuklappen. Wie hirnrissig die These von den zwei deutschen Nationalliteraturen dem Autor erscheinen mußte, wird vollends deutlich, wenn man seine Aufsätze über Thomas Mann, Heinrich Böll und Martin Walser gelesen hat. Die westdeutschen Autoren wurden von den Lesern in der DDR so wenig als Ausländer wahrgenommen wie umgekehrt Christa Wolf oder Christoph Hein in der Bundesrepublik. Sie setzten Maßstäbe, wurden wie Heinrich Böll zum Vorbild für in der DDR lebende Autoren, die sich dadurch umso leichter von der staatlich beeinflußten Literaturdoktrin emanzipierten.
Literatur lebt von der geistigen Autonomie, zu der sich ein Autor durchgerungen hat. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß Literatur ihre Aufgabe erfüllen kann, aus Sprach- und Wahrnehmungskonventionen auszubrechen, um Realität für den Leser zu entdecken. In diesem Sinne, als unendliche Entdeckungsreise, hat de Bruyn bereits 1982 die Funktion von Literatur definiert — in Abgrenzung gegen alle Theorien, die vom Autor Parteilichkeit für ein Gesellschaftsmodell fordern. Die Tradition — von der Kulturnation dem Autor zur Verfügung gestellt — ist dabei „nicht mehr als das Schiff, das er besteigt. Die Richtung, in die er segelt, bestimmt jeder allein. Der Autor allein bestimmt, was er sieht oder übersieht, was er sagt und was er verschweigt. Er allein trägt auch das Risiko des Unternehmens.“
Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten. S. Fischer Verlag, 1991. 205 S., DM 34,-.
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