: „Die Mörder sind unter uns“
In Gotha wurde ein Sowjetsoldat aus dem Fenster geworfen ■ Von Henning Pawel
Lynchstimmung herrscht unter Gothas Bevölkerung. Vom Hängen ist die Rede. Von an den Pranger stellen, Teeren und Federn, aus der Stadt jagen. Doch die Adressaten sind nicht irgendwelche Minderheiten, Asylanten, Rote oder Sintis (sie waren es bisher in Gotha auch nicht). Ein niederträchtiger Mordananschlag hat die Gemüter derart erregt. Grigori Bilars, Fähnrich der Sowjetarmee, 24 Jahre alt, gebürtig in der Ukraine, wurde am Montag abend im Gotha mit Tötungsabsicht aus dem dritten Obergeschoß seines Wohnblockes geworfen. Der Soldat betrat gegen 23 Uhr das Haus, welches er, aufgrund des Abzuges der sowjetischen Truppen, als einziger noch bewohnt. Hinterrücks wurde er von zwei bisher unbekannten Tätern überfallen. Zwei weitere erwarteten ihn bereits an seiner Wohnungstür. „Bringt ihn nach oben“, konnte der Fähnrich, der recht gut deutsch beherrscht, verstehen. Mit beispielloser Brutalität wurde er dann in den dritten Stock geprügelt, getreten, gezerrt und dort sofort kopfüber aus dem Fenster geworfen. Die Verletzungen sind schwer. Schädelwunden, Frakturen sämtlicher Sprunggelenke, die Wirbelsäule ist stark geschädigt. Unmittelbare Lebensgefahr besteht nicht mehr. Mit einem Krankenhausaufenthalt von mindestens einem halben Jahr aber ist zu rechnen. „Die Mörder sind unter uns“, erklärte erschüttert der alte Mann, unter dessen Balkon das Opfer gefunden worden war. Nicht ein einziger der zahlreichen anwesenden Gothaer widersprach. Einhellige Empörung und vielstimmige Angebote an die Polizei, ihr bei den Ermittlungen zu helfen. „Das waren die Nazis“, sagte eine Frau aus dem Haus gegenüber. „Zuerst haben sie die Russen durch ihre Mordbrennerei ins Land geholt und jetzt geht das schon wieder los. Die Sache mit dem Teppich fällt doch nur solchen Kreaturen ein.“ Um ihren Zynismus auf die Spitze zu treiben, hatten die Täter nach dem Anschlag ihr Opfer in einen Teppich gewickelt und liegengelassen. Ein bewegendes Bild auf meiner Nachhausefahrt: ein sowjetischer Verkehrsregulierungsposten auf einer Kreuzung. Verlegen nimmt er Zuwendungen entgegen, Schnitten, Bier, Zigaretten. Als wollten sie sich für die Schufte entschuldigen, die Menschen von Gotha.
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