Die Kugel im Augenblick der Freiheit

■ Nawal el Saadawi liest heute in Bremen: über Ängste der Männer und Unterdrückung der Frauen

In der Erzählung „Der Sturz des Imam“ entwirft die ägyptische Schriftstellerin Nawal el Saadawi, einen fiktiven theokratischen und totalitären Staat, eine Parabel auf die islamisch-fundamentalistischen Staaten, doch auch auf jedwede Gesellschaft, in der Frauen die Rechte im öffentlichen Leben vorenthalten werden.

Die Heldin der Erzählung ist ein Mädchen. Im Waisenhaus nennt man sie Bint Allah, Tochter Gottes. Bint Allah ist die uneheliche Tochter des Imam, des weltlichen und geistigen Führers des Schreckensstaates, der die unverheiratete Mutter Bint Allahs während einer kurzen Affäre geschwängert hat.

Untreu können im Gottesstaat nur die Frauen sein, ja sie sind es von Geburt an wie die Urmutter Eva. Ihre Untreue ist ein Werk des Satans; die Untreue der Männer ist jedoch nach dem Gesetz erlaubt, so lautet Gottes Wort. Dafür findet Saadawi Beispiele in alten orientalischen Erzählungen: Schon in den Geschichten aus 1001 Nacht übte der von seiner Frau betrogene König Schahrijar Rache an den Frauen. Jede Nacht vergewaltigte er eine Jungfrau und tötete sie anschließend. Allein Scheherazade erzählte 1001 Nacht um ihr Leben und entkam seiner Rachsucht.

Ähnlich wie in den Geschichten der Scheherazade unterteilt Saadawi ihre Erzählung in kurze Kapitel, in Geschichten, die den Anfang der nächsten immer schon andeuten. Sie läßt die Herrscher und ihren Hofstaat, wie den Imam, den Hofdichter, den Philosophen, die rechtmäßige Gattin, in einzelnen Kapiteln in der Ich- Form sprechen. Sie schlüpft in die Charaktere derer, die sich als Walter des Himmelreiches auf Erden wähnen und dabei feuchte Augen bekommen. Sie schmelzen zu einem Häuflein lächerlicher Machtgier zusammen. So ängstlich sind sie, daß sie Bint Allah, die ungewöhnliche Fragen zu stellen weiß und die Gesetze zu bezweifeln wagt, von einer Horde von Gottesdienern hinterücks erschießen lassen.

Den Augenblick des Sterbens betrachtet die Ärztin Saadawi eingehend, sie wendet sich nicht ab vom Schmerz, versucht nicht, ihn zu –verdrängen', wie es in der Sprache der westlichen Psychologie hieße. Bereits im ersten Kapitel beschreibt sie Bint Allahs Tod und kommt auf diese Szene im Laufe der Erzählung immer wieder zurück. Bei jedem Mal wird deutlicher, wie nah Bint Allah der Freiheit kommt, wie sie schon den Blick ins rettende Tal wirft und im letzten Moment der Kugel der Verfolger doch nicht entkommt.

Saadawi entwirft einen Staat, der die Unterwerfung unter religiöse Gesetze verlangt. Auch die Opposition zählt zu den Machtinstrumenten der Herrscher. Sie knüpft an Orwellsche Schreckenvisionen an und schöpft dabei aus der reichen Erzähltradition des Orients schöpfen. juan

20 Uhr, Angestelltenkammer