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„Frieden war mit uns!“

■ Die Gemeinde der Bewegten gedenkt in der Nicolaikirche des 9. Oktober 1989

Die Kirche ist voll. Voll mit Menschen, Einkaufstüten, Scheinwerfern und Kabeltrommeln. Eng gedrängt sitzen die Menschen mit gesenkten Köpfen in den weißen ungemütlichen Bänken. Zwei Jahre ist es her, daß das traditionelle Friedensgebet in der Nicolaikirche solchen Zulauf hatte. Als sich Superintendent Magirius in der ersten Reihe umdreht und seine unverhofft zahlreiche Gemeinde in Gedanken abzählt, geht ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Neben ihm der Oberbürgermeister nebst Gattin, der sich ebenfalls wendet, ein stadtväterliches Lächeln in die Kamera schickt und einigen Honoratioren der Stadt zunickt. Als der Scheinwerfer wieder aufblitzt, dreht auch Bischof Forck seinen Kopf ins hintere Kirchenschiff und geht die Reihen durch. Einige Zuspätkommende drücken sich in die Gänge. Zwischen ihnen marschiert das vierköpfige Kamerateam von RIAS TV, fokussiert gefaltete Hände und das Greenpeace-Abzeichen auf der Brust eines langhaarigen Jünglings. Pathos orgelt durch das Gotteshaus. Entsetzt springt eine Mutter hoch und versucht, das geräuschvolle Scharmützel ihrer beiden Söhne zu verhindern, die sich in der Gedenkstundenstille mit Plastikschwert und Wasserpistole unterm Kruzifix verlustieren.

„Schwestern und Brüder“, hebt Bischof Forck an. Das Mikrofon quietscht kurz. Mit weit ausgebreiteten Armen sagt er: „Wir sind heute hier versammelt, weil wir uns erinnern wollen.“ Dann erzählt er der Demonstrationsgemeinde die Geschichte vom 9. Oktober 1989. Er ist kein schlechter Erzähler. Auch wenn er damals nicht dabei war in Leipzig. Rhetorisch gewandt, nicht ohne dramatische Zuspitzung, erzählt er von der Angst und vom Zusammenhalt, damals. „...und der Frieden war mit uns“. Für einen Moment ist die Gemeinde der Dabeigewesenen wieder eins. Der Bischof ist kein schlechter Prediger. Nie vergessen sollte man den wahrlich politischen Anspruch der Kirche in diesen Tagen (und auch in jenen Jahren zuvor), sie habe Raum gegeben und sich geschlagen gegen jene, „die da arm im Geiste sind“. Und so müsse sie auch heute verfahren, „Schwestern und Brüder“, und sich wenden gegen die Geißeln, die da Hoyerswerda heißen. Weiß Gott, der Bischof ist kein schlechter Missionar. Auf den Wogen des Gedenkens kommt er beim Heute an. Die Kirche, so fährt er fort, müsse weiter voranschreiten, die Politiker zu mahnen, denn „der Hunger in der dritten Welt kann uns nicht glücklich machen“. In seine Rede bricht plötzlich Beifall. Die Köpfe erheben sich. Einige stehen auf und klatschen anhaltend.

Man dankt ihm hier das Engagement. Am Ende der langen Liste der Fürbitten steht auch sein Name, „daß uns Menschen wie der Bischof das Wort führen in der Zukunft“. Kyrie eleison! Die Orgel setzt ein, und sichtlich gelöst zerstreuen sich die 500 der 70.000 vom 9.Oktober 1989. Nana Brink

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