: Neu im Kino: "Archangel"
■ Perverser Schiwago aus Kanada
Archangel : ein Ort in der russischen Arktis — und in einem Russland aus Pappkulissen, in dem kiloweise Plastikschnee fällt, Hunnen und Bolschewiken Schützengräben angreifen und ein Modellflugzeug Zwiebeltürme überfliegt. Dort entfaltet sich ein groteskes Weltkriegsmelodram. Als eine „pervertierte kanadische-Version von Doktor Schiwago“ beschreibt der Produzent den Film des jungen Regisseurs Guy Maddin.
Oberflächlich gesehen erzählt er die tragische Liebesgeschichte des kanadischen Leutnants John Boles, der Krankenschwester Veronkha, des belgischen Flieger Philbin und der schönen, aber von Anfang an toten Iris. Ihre amourösen Verwicklungen werden dadurch extrem kompliziert, daß alle entweder durch Kopfverletzungen oder Senfgas das Gedächtniss verloren und große Schwierigkeiten haben herauszufinden, wer in wen verliebt ist.
Nicht nur der extrem melodramatische Plot und die übertrieben expressionistischen Gesten der Schauspieler erinnern an alte Stummfilme. Die Schwarz-weiß- Bilder sind durch Kratzer auf alt getrimmt, auf der Tonspur überlagern sich nachsynchronisierte Dialogfetzten, Rauschen und Filmmusik im Stil der 20er, es gibt Zwischentitel, und eine Filmfigur heißt (wie der berühmte Stummfilmstar) Jannings.
Die vergessenen Konventionen des Stummfilms werden von Maddins neubelebt und ironisiert. Dadurch ist „Archangel“ absichtlichtsvoll lächerlich, aber auch nie so witzig, daß man laut loslachen muß. Wenn erschöpfte Soldaten in ihren Schützengräben einschlafen und von einer Invasion aus dem Himmel fallender weißer Kaninchen heimgesucht werden, ist das auch von surrealer Schönheit. In einer anderen Szene hebt der von einem Bolschewiken erstochene Jannings seine Eingeweide, (die wie Partywürstchen aussehen) vom Boden auf und erwürgt damit seinen Mörder. „Mit Gedärmen erwürgt“ steht auf dem folgenden Zwischentitel.
Ähnlich wie David Lynchs erster Erfolgsfilm „Eraserhead“ wirkt der Film zugleich abstossend und faszinierend, absurd und dann wieder rührend kitschig. „Archangel“ ist dazu bestimmt, ein Kultklassiker zu werden. Wilfried Hippen
Schauburg Mo — Do 23.00 Uhr
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