: ER TOD IST EIN SCHÖNES TIER
„Berghaft, füllig und
unter dem Halbmond der scharfen
Hörner sein Blick weiß nicht,
begreift nicht, ob dieses neue
Schweigen, das ihn da zudeckt,
ein Zeugungsmantel aus
Köstlichkeiten ist,
oder ewiges Dunkel, Maul
der Katastrophe.“
(Pablo Neruda)
VONMIRJAMSCHAUB
Dax, im August. Der Fleischfresser im Sonnenlicht ist 36 Jahre alt und Matador. Er heißt Paco Ojeda. Als kleiner Junge hat er auf einer spanischen Finca mit wunden Augen die mächtigen Hörner angestarrt, die als Attrappe vor den strohbedeckten, einrädrigen Karren gebunden sind. Er hat das Becken zaghaft nach vorne geschoben und die Arme im Bogen durch die Luft geführt. Die Leute sagen, die Heilige Jungfrau habe Gefallen an ihm.
Der Vegetarier im Dunkeln ist vier Jahre alt und Stier. Er heißt Toro. Als kleiner Stier hat er auf den Wiesen der Finca geäst. Seine Hörner sind gewachsen. Er hat den Nacken gesenkt und die Hörner in die Flanken der Pferde gestoßen. Die Leute sagen, er habe einen Killerinstinkt.
In Dax ist Stierkampf, Feria: die Woche der Toreros, Touristen und Aficionados. Dax ist eine unbedeutende Kleinstadt im Südosten Frankreichs, die allenfalls Kranke wegen der Fangopackungen und Thermalbäder aufsuchen. Im August aber kommen die Touristen zu Tausenden, einer hundert Jahre alten Tradition folgend.
Was sich in der weißgekalkten Arena von 1913 vor 8.200 Augenpaaren tut, hat nur entfernt mit Paco Ojeda und Toro zu tun. Ihr „Allgemeines“ zählt...
I.
Die Türen des Verschlags öffnen sich. Die Kapelle de Nèhe verstummt. Der Stier stürmt ins Licht. Wirbelt rotbraunen Sand auf. Rammt seine Hörner in die Bande. Ein Peón tritt hervor, bietet dem Stier den leuchtenden Umhang, die Capa, an. Der Matador beobachtet das Tier. Pailletten blitzen in der Sonne. Der Stier schnaubt, als er die Capa verfehlt. Das Fell glänzt schwarz, und an der Flanke zeichnet sich die Atmung ab. Der Stier ist schön. Er kann es mit den Männern aufnehmen. Viele seiner Artgenossen scharren wütend im Sand und vergeuden ihre Kraft. Dieser Stier aber ist sparsam, gezielt. Sein Kuhschwanz schlägt regelmäßig nach den Fliegen aus.
Das Publikum liebt ihn. Es kennt die Vorzüge der Aufzucht von Manolo González genau. Man handelt den Preis des Stiers („80.000 Francs?“) und kaut Sonnenblumenkerne. Denn Stierkampf ist Kunstgenuß. Seine Mitwisserschaft reicht von Rainer Maria Rilke über Goya zu Ernest Hemingway. Paco Ojeda kann sich in der Nachfolge von Pedro Romero wissen, der schon zur Zeit des amerikanischen Befreiungskriegs mehr als 5.600 Stiere in seinen schlanken Degen laufen ließ. Sie alle berufen sich auf den uralten persischen Mitraskult, der später in Rom seine Blüten trieb. Wer will, kann noch einmal in Gedanken in das Kellergewölbe von San Clemente herabsteigen, in dem blaß ein Wandgemälde erscheint: Mitras, der aus dem Fels Geborene, und der Stier, der Fels geblieben ist. Mitras muß den wilden Stier fangen und töten. In dessen dickem Blut wird ihm Fruchtbarkeit und ewiges Leben zuteil. Jedes Jahr im Sommer wiederholt sich dieser Ritus in Dax und andernorts.
II.
In der Arena beginnt der Kampf. Die Trompeten kündigen die Picadores zu Pferde an. Wuchtig und mit verdunkeltem Gesicht rückt der Picador an. Das Pferd unter ihm ist mit dicken Baumwollpolstern geschützt. Bis 1928 sind in den Arenen von Spanien und Frankreich mehr Pferde als Stiere verendet. Aufgeschlitzt von den Hörnern des Stiers sackten die Eingeweide in den Sand... Der Picador rammt die Lanze in den Nacken des Stiers. Der Wiederkäuer tut keinen Laut. Er preßt die Hörner in die Petos. Vielleicht bringt er das Pferd zu Fall. Die Augen des Pferds sind mit einem feuchten Tuch verbunden, die Ohren mit Zeitungspapier verstopft. Das Tier hält still. Unter ihm klafft die Wunde des Stiers faustgroß im Speck. In den ersten Zuschauerreihen hört man bei der zweiten Attacke des Picador das Ratschen des Siebensterns auf den Schulterblättern des Stiers. „Da fiel der erste Tropfen Blut und erblühte; Blut empfing die Erde; und zehrte es auf wie ein schrecklich heimliches Tier, das nicht satt werden kann.“ (Pablo Neruda)
Ein Mann und ein Stier. Die Entscheidung muß fallen. Beide zugleich können nicht sein. Das bekennt schon der griechische Mythos des Minotaurus. Pasiphae, eine Göttin allerersten Ranges, hatte sich mit einem bos primigenius, einem Urweltstier, eingelassen. Das Kind ward ein Untier. Das Viech mit dem Kopf eines Stiers und dem Leib eines Mannes wütete derartig auf der Insel Kreta, daß man ein Labyrinth erbaute. Friedrich Dürrenmatt mutmaßt: „Oft wird er in plötzlicher, unerklärlicher Wut gegen die Mauern des Labyrinths gerannt sein; immer wieder, durch seine unbewußte halbgöttliche Stierhaftigkeit getrieben, bis er sich schließlich wiederfand, um erschöpft weiterzuäsen oder einfach hingestreckt liegenzubleiben, den roten Sonnengott anglotzend.“ Minotaurus hat die Untat, die seine Geburt war, natürlich nicht überlebt.
III.
In Dax wiederholt sich sein Lauf. Hoch über seinem Stierkopf sausen die Banderillas mit ihren bunten Papierschleifen herab. Die Widerhaken bohren sich in die Oberhaut, der Stier wirft den Kopf zurück. Er strauchelt zum ersten Mal. Er versteht nichts von seinem Schicksal, vom höheren Sinn seiner unversehrten Aufzucht inmitten des industriellen Europa. Ojeda-Theseus lächelt. Er tritt in den Lichtkegel der Arena. Bedächtig legt er mit dem Degen eine Falte — nach Manier von Pedro Romero — in die feuerrote Muleta. Das ist die Stunde des Toreros. Der Mann faßt den Stier, seinen Stier ins Auge.
„Lächerlicher Donjuanismus“ sei das, „Pornographie ohne Sinnlichkeit, ohne Kunst, ohne Bewußtsein“: Eugenio Noel ist wohl der flammendste Gegner des Stierkampfs. Allein bis 1925 soll er 706 Konferenzen in dieser Sache gegeben haben. Doch er verkennt, daß ein guter Stierkampf eben keine mythische Opferung ist. Der Stier soll getötet, nicht geschlachtet werden. Wenn ein Stier die Arena verwundet betritt, wird er begnadigt. Der Torero muß den Stier lieben. Daß er ihm deshalb Gewalt antut, ist besonders den Protestanten suspekt. Würden die Tiere allein aus Gründen des Verzehrs aufgezogen, wäre das pragmatische Weltbild der Kritiker wieder im Lot. Das Leiden des Stiers hat nie im Zentrum der Debatte gestanden, statt dessen ist von der Verhärtung der Zuschauerseelen die Rede. Aus diesem Grunde regt sich auch niemand über den portugiesischen Stierkampf auf. Auch hier wird das Tier getötet— aber eben erst nach der Veranstaltung und unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Damit ist der Corrida in den Augen der Aficionados das „Herz“ geraubt: die Gewalt, die blutig, der Tod, der öffentlich ist.
Das authentische Drama wird in dieser Saison in Frankreich 83mal aufgelegt, in Nimes, Arles, Bayonne, Béziers oder Mont-de-Marson. Bis zu 400 Francs (140 DM) zahlen die Fans für einen Schattenplatz. Sie sind wütend, wenn der Stier untergewichtig ist oder die Hörner gekappt sind. Aber die Mehrzahl der Touristen merkt nicht mal die Einstiche von Barbituratnadeln in den Schultern der Tiere.
Tagelang laufen die Menschen durch die Straßen, vorbei an den Kirmesbuden und Ständen, die Baskenmützen und rote Bauchbinden feilbieten. Die blutverklebten Banderillas werden für 50 Francs gehandelt. An den Thermalhotels vorbei defilieren kubanisch-bayrisch-andalusische Folkloregruppen. Spaßvögel sprühen mit „Dolci Flock“ um sich— im besten Fall Rasierschaum aus der Dose. Man trifft sich zum Pastis-51-Umtrunk vor der Redaktion des heißgeliebten Lokal(matador)blattes 'Sud-Ouest‘ am Place Roger Ducos. Die Redakteure diskutieren die Trophäen des letzten Tages: „Ein Ohr? Drei! Und die Schwanzquaste?“ Draußen ißt man Stierfleisch. So wie der Torero seinen Unterleib stolz und verächtlich präsentiert, so wohlgarniert finden sich später die Stierhoden in den Schaufenstern der Metzgereien wieder.
IV.
In der Arena von Dax ist der Schatten gewandert. Paco Ojeda tänzelt leichtfüßig in seinen Ballerinas durch den Sand. „Ho, Toro!“ rufen die Peones, wenn der Stier dem Spiel der Muleta nicht folgen will. Der blutende Stier geht in die Defensive. In der Nähe des Torils bekommt er Stallgefühle. Ojeda muß ihn fortlocken, damit er in der Querencia des Tiers nicht sein Leben riskiert. In vier Metern Entfernung bleibt Ojeda vor Toro stehen. Mit der linken Hand führt er die Muleta zu Boden, um den Nacken des Stiers zu senken, die Aufmerksamkeit abzulenken. Ojeda hebt den Degen mit der Rechten über den Kopf des Tieres. Er visiert den kleinen Punkt im Nacken, der den Tod bringen wird. Die Zuschauer schweigen. Sie wissen, daß der Torero im Moment des Todesstoßes selbst das Leben riskiert. Hier steht Instinkt gegen Intellekt. Ein Kampf der Ungleichen. Physik gegen Metaphysik. „Ich bin ganz der Stier“, sagt Zocato, der Tauromachie-Kritiker. „Wenn der Stier stirbt, ist es alles und nichts. In diesem kurzen Moment bin ich unsterblich.“
Der Mann sticht zu. Der Degen steckt bis zum Anschlag. Ruhig geht das Tier in die Knie. Erst die Vorderbeine, dann die Hinterbeine. Still. Das Vieh bricht zusammen. Sein Blut gerinnt im Sand.
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