: Mehrfachstaatsbürger
■ György Konrád erhält am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Michaela Ott sprach mit dem ungarischen Schriftsteller
taz: Herr Konrád, Sie erhalten den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels aufgrund Ihres langjährigen Eintretens für die zivile Gesellschaft und gegen die Allmacht des Staates. Diese von Ihnen als „Antipolitik“ bezeichnete Haltung haben Sie als „geistigen Widerstand des Schriftstellers gegen die Politik jener, die die Macht haben“ definiert. Hat sich mit den Demokratisierungsprozessen in Ungarn an Ihrer Haltung etwas geändert?
György Konrád: Ja natürlich, vieles hat sich geändert. In den neuen Demokratien wurde die Staatsmacht eingeschränkt, in meinem Land oder in der CSFR gibt es beispielsweise keine Menschenrechtsverletzungen mehr. Der Staat hat sich aus vielen Bereichen zurückgezogen. Aber er ist noch immer stärker als nötig, nicht nur in der Wirtschaft: 80 Prozent der Güter gehören noch immer dem Staat. Unser Äquivalent zur Treuhand hat ein absolutes Monopol. Damit verfügt die Regierungskoalition über eine viel größere Macht als in den westlichen Demokratien. Es ist nicht einfach, von einem Staatssozialismus zu einer konstitutionellen Demokratie überzugehen. Auch alte Ideale leben weiter, wie das Ideal der Einigkeit: Auseinandersetzungen gelten als gefährlich, Diskussionen als unerwünscht; es kann einem leicht passieren, daß man als Landesverräter bezeichnet wird, weil man die Regierung kritisiert. Weil die kleinen Länder sehr abhängig von der Weltpresse sind, unterliegen sie mehr als die großen dem Zwang zur Imagepflege; so hat man auch im Mehrparteiensystem, in den sechs Parteien, die es in Ungarn gibt, eine Gefahr gesehen; ich dagegen halte diese Entwicklung für gesund. Man glaubte, nach Überwindung des Kommunismus automatisch in einen Zustand der Harmonie eintreten zu können. Ich denke, daß man zuerst eine wirksame liberaldemokratische Struktur schaffen muß, in diesem Sinne bin ich weiterhin Antipolitiker. Meine antipolitischen Instinkte dringen auf Eingrenzung des Politischen; mir ist wichtig, daß Leute, die keine Berufspolitiker sind, aber ihr Wissen einbringen, sich Gehör verschaffen können, nicht in gewählten Körperschaften, sondern in anderen Formen der Öffentlichkeit. Antipolitik bedeutet für mich heute: Selbstverwaltung in den Kommunen, auf der lokalen Ebene, Bürgernähe. Öffentlichkeit zu schaffen ist auch Antipolitik; Politik soll nicht ein Monopol der Berufspolitiker sein.
Sie haben das politische Mandat in Ungarn bewußt abgelehnt, Sie sind jedoch Präsident des Internationalen PEN. Können Sie Ihrem eigenen Wahlspruch noch folgen, der einmal hieß: „Es ist unsere moralische Pflicht, die verschwenderische Zwietracht der Sattgewordenen vor dem Hintergrund der hungernden Millionen aufzuzeigen“?
Ich würde es gerne, aber ich habe noch nicht viel erreicht; bisher war die osteuropäische Lage für mich von vordringlichem Interesse. Ich habe Regionalkonferenzen der osteuropäischen PEN-Zentren einberufen; ich habe jugoslawische Schriftsteller nach Budapest eingeladen; vorige Woche war ich in Mazedonien, wo wir eine Erklärung zum Recht auf zivilen Ungehorsam und zur Wehrdienstverweigerung unterzeichnet haben. Diese naheliegenden Beschäftigungen haben die PEN-Tätigkeiten eingeschränkt. Aber meine nächste Aufgabe wird sein, einen Dialog zwischen europäischen und islamischen Schriftstellern in die Wege zu leiten, das ist keine leichte Aufgabe. Es ist schwierig, Stimmen zu finden, die für sich und nicht für eine politische Körperschaft sprechen. Die Verbreitung der internationalen PEN-Tätigkeit wird der nächste große Schritt sein; bis jetzt gibt es 112 PEN-Zentren in der Welt, leider sind Afrika und Südamerika noch nicht dabei.
Die Lage in Osteuropa beunruhigt Sie. Als Sie 1985 als einer der ersten die Idee einer osteuropäischen Konföderation aufbrachten, hat das großes Aufsehen erregt; noch 1988 in Berlin, beim „Traum von Europa“, haben Sie von Mitteleuropa als subversivem, die Nationalstaaten durchbrechendem Konstrukt geträumt. War das angesichts des heutigen Kriegsschauplatzes eine nostalgische Kaffeehausplauderei?
Alle Länder wollen möglichst schnell von Westeuropa anerkannt werden, aber Partikularismen, Chauvinismen dominieren. Ich habe in Jugoslawien oft gehört: Wir müssen unseren Nationalstaat sichern, das ist unser tausendjähriger Traum. Ich sehe die Gefahr, daß solche Tendenzen zunehmen werden, wenn die Hoffnung, integriert zu werden, schwindet. Nationalistische Tendenzen gibt es im übrigen nicht nur in Osteuropa, die Gefahr eines neuen Faschismus gibt es in ganz Europa, in ganz Eurasien. Ich sehe aber auch vielversprechende Zeichen wie die pazifistische Frauenbewegung in Jugsolawien; die Frauen sind ziemlich stark. Die heutige Aufgabe in Mitteleuropa heißt für mich: ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß einzelne Personen bzw. einzelne Kollektive mehrere Identitäten haben können, und anzuerkennen, daß es Leute mit mehrfacher Staatsbürgerschaft gibt. Man muß trennen zwischen territorialer, nationaler und kultureller Zugehörigkeit. Man braucht in Osteuropa Doppelstaatsbürgerschaften, sonst wird es noch mehr Fluchtbewegungen geben. Man hat lange Zeit für die Anerkennung individueller Menschenrechte gekämpft, jetzt müssen die kollektiven Menschenrechte berücksichtigt und gesichert werden.
Was Ungarn im engeren Sinn betrifft, so gibt es eine gewisse Zusammenarbeit mit Polen und der CSFR, dabei tun sich jedoch neue Probleme auf, wie die slowakische Frage. Es gibt eine Reihe von Abmachungen zwischen diesen Ländern, die eine regionale Kooperation ermöglichen und noch vor dem Eintritt in die EG wahrscheinlich zu einem gewissen gemeinsamen Markt führen werden.
Sie sind als Schriftsteller auch ein passionierter Soziologe. Wie hat sich der politische Wandel auf die Gesellschaft Ungarns ausgewirkt?
In unterschiedlichster Art und Weise. Die Gesellschaft ist allgemein verarmt. Viele Familien sind unter das Existenzminimum gesunken, auch solche, in denen beide Elternteile arbeiten; es gibt sehr viel Obdach- und Arbeitslose. Ich sitze auch im Magistrat, wo Hilfe für solche Leute organisiert wird; die Mittel der Stadt reichen dafür jedoch nicht aus, und die Regierung ist nicht allzu hilfsbereit. Neureiche, Milliardäre sorgen für Verbitterung. Andere Jungunternehmer aus der kleinbürgerlichen oder bäuerlichen Schicht dagegen schaffen Arbeitsplätze, darin sehe ich eine vielversprechende Entwicklung. Meistens bekleiden heute Leute aus der Mittelklasse Führungspositionen, das Bürgertum ist kaum in der Politik vertreten. Die Intelligenz muß erst noch lernen, die ihr zukommende Macht wahrzunehmen.
Zur Rolle der Intelligenz: Sie haben 15 Jahre lang als oppositioneller Schriftsteller in Ungarn offiziell nicht existiert und konnten nur im Samisdat publizieren. Wie sieht für Sie die Rolle des Intellektuellen heute aus?
Für mich ist es eine Heimkehr in die Normalität, oder besser: seit 1989 erfahre ich erstmalige eine Normalität. Unser Untergrundleben war ein wenig adoleszent. Die Konspiration selbst ist eine Weile interessant, wird dann aber langweilig. Jetzt bin ich ein normaler Schriftsteller. Das Normale ist mir angenehm. Es gab in der inneren Emigration gute Möglichkeiten zu arbeiten, die habe ich jetzt weniger, da die Veränderungen in Ungarn und die internationalen Treffen viel Zeit in Anspruch nehmen. Für Schriftsteller und Dissidenten war die Wende eine große Herausforderung, viele sind in die politische Klasse eingetreten, meine Freunde sind überall Botschafter, Parteivorsitzende, wenn auch in der Opposition. Darin sehe ich ein Problem, aber es mangelte an glaubwürdigen Leuten. Ich denke, Intellektuelle brauchen kein Mandat für ihre Ansichten, es ist nicht sehr wünschenswert, daß sie sich eine Macht anmaßen, die nicht in ihrer Kompetenz liegt. Ihre Macht besteht in der indirekten Einflußnahme auf die Öffentlichkeit. Ihr Privileg ist ihre Autonomie. Heute werden die Intellektuellen teilweise bereits wieder gehaßt, da man bemerkt hat, daß heutig gängige Ansichten von ihnen bereits vor Jahren vertreten worden sind. Ich habe die internationale PEN-Präsidentschaft angenommen, da holländische, schwedische, englische und andere PEN-Zentren mich vorgeschlagen und gesagt haben, es gibt einen Staffellauf, bisher haben die Westler die Menschenrechte verteidigt, jetzt soll das eine andere Art von Autorität übernehmen. Ich fand, ich sollte das tun, drei Jahre lang; es ist mir mehr Aufgabe als Vergnügen.
Zu Ihrem neuesten Roman Melinda und Dragoman: Inwiefern ist er eine Lebensbilanz, als welche er angekündigt wurde?
Er ist vor allem ein Liebesroman, ich habe ihn bereits 1988 beendet. Die Hauptperson ist ein Weltwanderer, der nach zwanzigjähriger Emigration nach Ungarn zurückkommt. Die Hälfte meiner Freunde sind 1956 weggegangen, ich bin geblieben. Viele kommen jetzt besuchsweise zurück. Ich habe versucht darzustellen, was wir auf verschiedenen Wegen getan haben, in den USA, in Budapest, in Australien, wo immer. Ich finde, daß meine anderen drei Romane, Der Besucher, Der Staatsgründer und Der Komplize, eine Einheit sind, eine Trilogie, wenn man so sagen darf. Melinda und Dragoman soll der erste Teil eines Romanzyklus sein, an dem ich bis zu meinem Lebensende weiterarbeiten will.
Wie Sie Karl Schloegel für den SFB gefragt hat: Der Historiker István Bibo hat mit seinem Essay Die deutsche Hysterie eine geschichtliche Herleitung des deutschen Minderwertigkeitskomplexes versucht. Wie beurteilt man von Ungarn aus die Manifestationen deutscher Ressentiments anläßlich der Vereinigungsvorgänge?
Was Bibo geschrieben hat, ist heute wieder aktuell. Ich habe, wenn ich das erwähnen darf, auch einen Artikel mit dem Titel Identität und Hysterie geschrieben. Die Hysterie ist jedoch nicht nur eine Sache der Deutschen: Jeder ängstlich verkrampfte Rückzug auf eine einheitliche Identität schafft Hysterie. Die nie stattgehabte Revolution, die Diskrepanz zwischen Staats- und Gesellschaftsform und der Mangel an bürgerlicher Tradition haben den Deutschen ein gesundes Selbstbewußtsein vorenthalten. Eine solche Unsicherheit eines Volkes wird in Krisenzeiten auf die Nachbarn kanalisiert, wie wir das jetzt überall erleben.
Es ist Buchmessenzeit. Bei der Veranstaltung „In einem anderen Europa“ in der Westberliner Akademie der Künste haben Sie erzählt, der Buchmarkt in Ungarn sei zusammengebrochen. Was bedeutet das, wie steht es um die Publizistik in Ihrem Land?
Es gibt zur Zeit in Ungarn 54 literarische Zeitschriten. Eine wuchernde Produktion, die aber eher in die Zeitschriften fließt. Es gibt auch etwa 400 neue Verleger. Viele davon sind natürlich auf Kommerz ausgerichtet. Die Buchpreise sind in die Höhe geschnellt: Mit dem Wegfall der Zensur ist auch die Staatssubvention weggefallen, aber der Vertrieb unterliegt noch immer einer staatlichen Organisation. In Budapest werden ca. 400 Buchläden von diesem Vertrieb beliefert: Wenn er ein Buch ablehnt, erscheint es nirgends. Wir fordern daher die Unabhängigkeit der einzelnen Buchhändler; aber alles ist im Übergang. Die Leute haben weniger Geld, um Bücher zu kaufen. Ich sehe jedoch bereits wieder positive Anzeichen: Läden, die noch im letzten Jahr Videos verkauft haben, sind wieder zum Buchverkauf zurückgekehrt. 1989 wurde ein Roman von mir in 70.000 Exemplaren in diesem kleinen Land verlegt, das wäre heute natürlich unmöglich; aber eine bescheidene Verlagspolitik ist nach wie vor möglich, 10.000 bis 20.000 Exemplare kann man noch immer verkaufen.
Konrád György: Der Besucher, Geisterfest und Der Komplize, alle als Suhrkamp Taschenbuch.
Melinda und Dragoman, Roman, soeben bei Suhrkamp erschienen.
Der Stadtgründer, Roman, List Verlag, München.
Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Aufsätze, Bibliothek Suhrkamp.
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