: Für einen Marshall-Plan
■ Einwanderungspolitik muß an der Wurzel ansetzen
Ich komme eben von einer Tunesien-Reise zurück. Dort stehen die Behörden und die verantwortlichen Techniker völlig hilflos der Konkurrenz zwischen Franzosen und Italienern gegenüber. Dieselben Klagen habe ich in Rabat über die Kämpfe zwischen Franzosen, Spaniern und Amerikanern gehört. Kämpfe, die den präzisen Sonderinteressen der einzelnen Länder entsprechen — die aber die Entwicklung dieser Länder blockieren, statt sie zu stimulieren. Ich habe junge Intellektuelle kennengelernt, deren einziger Wunsch es ist, nach Frankreich oder Italien auszuwandern, und die entschlossen sind, das dortige Heer von Ärzten, Ingenieuren und Anwälten zu mehren.
Jedesmal, wenn der französische Außenminister Dumas seinen italienischen Kollegen De Michelis oder seinen spanischen Partner Ordonez trifft, ziehen sie liebevoll das Projekt eines neuen Marshall-Planes für die Völker des Mittelmeeres heraus, der die Eliten der einzelnen Länder in ihrer Heimat halten und bodenständige Experten herausbilden soll, statt sie zu Emigrations-Kandidaten zu machen. Doch längst sind all diese Pläne reine Schaufenster- Phrasen geworden, Sprüche für Diplomaten und die Bankette der Politiker. Kaum ist das Treffen zu Ende, verfolgt jeder wieder seine chauvinistischen Sonderinteressen. EG-Kommissions-Präsident Jacques Delors hat erklärt, daß es ihm zwar gelungen ist, seine Mitarbeiter für die Probleme einiger östlicher Länder, wie etwa Polen, die CSFR und Ungarn, zu sensibilisieren, daß er jedoch noch immer von völliger Gleichgültigkeit erschlagen wird, sobald er von den Mittelmeerländern spricht. Und zwar nicht nur hinsichtlich der maghrebinischen Anrainer, sondern auch der europäischen, etwa Griechenland oder Albanien.
Ohne einen solchen von ganz Europa ausgearbeiteten Marshall- Plan aber, das wissen wir längst, werden alle europäischen Länder von Tag zu Tag stärker destabilisiert durch das, was man die „größte demografische Katastrophe“ oder „die Invasion“ nennen kann. UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar hat zu Recht vor kurzem erklärt: „Wir hatten bisher einen Hochkommissar für das Flüchtlingswesen mit Sitz in Genf. Was heute geschieht, ist aber längst nicht mehr mit einem Hochkommissariat zu bewältigen. Es ist Sache der gesamten Vereinten Nationen geworden. Ein Viertel aller Weltbewohner ist dabei, sich in Flüchtlinge zu verwandeln.“ Jean Daniel
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