: Waldeslust
■ Jenny Diskis Roman über Ökologie und Leidenschaft
Der Platz der Spezies Mensch in der Natur“: Wer ein Seminar für Anthropologie mit einer solchen Hausaufgabe belastet, sollte sich nicht wundern, wenn eine Woche später zwischen den erwartungsgemäß angefertigten Dokumenten leutseligen Eifers auch mal ein zynisches Pamphlet zu finden ist. Mo Singleton, engagierte Ökologin und seit zwei Jahren Dozentin an einer Londoner Universität, beugt sich gereizt über die kaum zu entziffernden Zeilen eines gewissen Joe Yates. „Oh Gott!“, murmelt sie.
Doch die vermeintlich pubertäre, verächtliche Rebellion gegen die Annahme einer wie auch immer gearteten Bedeutung der menschlichen Existenz ist nicht die eines traurigen Erstsemesters, der „gerade irgendwas gelesen“ hat, wie Mo vermutet. Joe Yates ist Mos neuer Kollege, der schon bald mit einer Flasche Wein vor ihrer Haustür warten wird, um sich als „Anordnung von Molekülen“ nunmehr auch persönlich unbeliebt zu machen. Mo jedenfalls ist nicht geneigt, ihr Bett mit einem Nihilisten zu teilen. — Oder doch?
Jenny Diski, die mit Regenwald ihren zweiten Roman vorlegt, hat sich für ihre Protagonistin einen wahrhaft souveränen Gegenspieler ausgedacht. Ein Aufsatz und zwei oder drei lässige Auftritte eines breitschultrigen, mit abgetragenem Leder behangenen Machos reichen aus, um Mos Leben aus dem disziplinierten Takt zu bringen. Noch bevor Mo nach Borneo aufbricht, um dort an einem Forschungsprojekt im Dienst der Rettung des Regenwaldes teilzunehmen, beginnen Sinn und Zweck ihres Tuns sich unaufhaltsam in ein klebriges Nichts aufzulösen. Daß die sogenannte „Umwelt“ sich „weder um ihren eigenen Tod noch um den des Menschen sorgt“, daß die „Natur“, ob sie nun zerstört, erhalten oder restauriert wird, nichts als Fiktion — ein „Schoßhund“ menschlicher Selbsttäuschung — ist und die Sorge um unser aller Zukunft eine absurde Verleugnung der Kurzlebigkeit des Lebens selbst: Den markigen Merksätzen Joes vermag Mo sich nicht lange zu verschließen. Ohnmächtig und zusammengekrümmt am Boden ihres Zeltes aufgefunden, wird Mo aus dem Regenwald zurück nach London transportiert — in den Gewahrsam eines psychiatrischen Krankenhauses.
Jenny Diskis Psychodrama rankt sich um ein altbekanntes Gegensatzpaar: das Chaos und die Ordnung. Und tatsächlich — für den traditionsreichen Kampf dieser ideellen Giganten kann kein Szenario geeigneter erscheinen als das perfekte Durcheinander des Regenwaldes. Einzigartig in ihrer monströsen Artenvielfalt, undurchschaubar in ihrer Struktur, widersetzt sich diese Wildnis wie keine andere den Kartierungs- und Katalogisierungsversuchen der Wissenschaft. Doch tapfer spannt Mo 135 Meter Nylonschnur durch das trotzende satte Grün. Was sich innerhalb von zehn Planquadraten dahinwindet und ineinander verschlingt, was sich gegenseitig befruchtet, frißt und erstickt, was aus Knospen fleischig hervorbricht und was hingegeben vermodert, soll täglich dokumentiert werden — auf Millimeterpapier. Daß hier nicht „der Mensch“, sondern eine Frau der „Natur“ gegenübersteht, verleiht Jenny Diskis Roman nur vordergründig einen emanzipatorischen Akzent. Denn Mo ist eine fade Person, eine gewissenhafte Dienerin dessen, was sie als „Vernunft“ bezeichnet, „nüchtern, langweilig, unattraktiv“. Ohne Zweifel also ist es ein weibliches Mangelwesen, das die Autorin gnadenlos kapitulieren läßt: vor der lasziven Vitalität der Tropen nämlich und der eigenen — verdrängten — Begehrlichkeit. — Düstere Rückblenden in Mos vaterfixierte Kindheit und die Einführung einiger schrulliger Nebenfiguren können den Roman nicht komplexer gestalten, als sein schlichter Grundgedanke es erlaubt. Wo selbst ein so ruhiger, besonnener Charakter wie der Mittvierziger und Sozialanthropologe Liam unvermittelt imstande ist, seinen Lehrstuhl und seine Familie einem opulenten Paar studentischer „Titten“ zu opfern, ist auf nichts mehr Verlaß. „Der Wald“ spricht, der Wald ruft. Liam wird nach Sambia auswandern, begleitet von einem sehr jungen, sehr lockenden Körper, und beschuldigt, den Verstand verloren zu haben.
Wohl kaum je hat ein literarisches Geschöpf einen Wald betreten, ohne verändert wieder herauszukommen. Wege und Irrwege der Selbsterkenntnis, gesäumt von Abenteuer und Gefahr, sind das mindeste, was ein dichter Baumbestand einem Eindringling zu bieten hat. „Der Wald“ aber ist überall. Schroff präsentiert Jenny Diski ihr Lehrstück vom Siegeszug dunkler Mächte, den der Widerstand der Ratio nicht aufhalten kann: Tabellen, Diagramme, Berechnungen — vergeblich sind die Mühen der Mo Singleton, Exerzitien der Selbstkasteiung als „Arbeit“ zu tarnen. Joe, „unterwegs nach Sydney“ und für eine Nacht in Mos Zelt zu Gast, glaubt ihr nicht.
Wer sich in Visionen von dämonischer, morbider Leidenschaft nicht ohne weiteres einfühlen kann, liest in Regenwald die Geschichte einer sexuellen Unterwerfung, die Jenny Diskis vielbeachtetem Debüt Küsse und Schläge 1989 recht ähnlich ist. Unerschrocken verstrickt sich die Autorin in eine depressive Romantik, in der das Chaos noch Chaos — und der Mann noch ein Mann ist: eine hereinbrechende Katastrophe. — Die philosophische Aufbereitung des Romans zeugt von einigem intellektuellem Aufwand, nicht aber von Einfallsreichtum. Argumentative Anleihen bei Seinsmystik und moderner Physik bleiben Blendwerk, trendgerecht installiert, doch nicht dazu angetan, der behaupteten Botschaft dieses Buches nützlich zu sein: daß „der Wald etwas anderes ist als ein zu messendes Ökosystem“. Wenn auch Mo Singleton diese Lektion schließlich „begreifen“ muß — Jenny Diskis findige Attacke gegen ökologische Verantwortung ist ein Bluff, ein gescheiterter Versuch, mit politischer Brisanz zu kokettieren.Ester Röhr
Jenny Diski: Regenwald . Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Runge. Klett-Cotta, 209 Seiten, 36 DM.
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