: Von den serbischen Nachbarn vertrieben
In Jugoslawien sind bereits 260.000 Menschen auf der Flucht — und es werden täglich mehr ■ VON THOMAS SCHMID
Daß ihm das in seinen alten Tagen noch passieren mußte! Der 81jährige Josip Balent starrt dumpf vor sich hin. Zusammen mit seiner Frau Ana und seiner Tochter Vesna sitzt er auf einer Pritsche im Heim der Ordensschwestern von „Notre Dame“ in einem Außenviertel von Zagreb. In Slakovci, einem kleinen Ort im Osten Slawoniens, gerade 15 Kilometer von der Donau entfernt, die dort die Grenze zu Serbien bildet, war er der reichste Bauer im Dorf. Ja, sogar ein großes Haus mit Zentralheizung hatte er und über zehn Hektar Land, und jetzt diese Enge, 18 Quadratmeter zu dritt. „Serben, alles Scheiße!“ flucht der Alte — und damit hat sich sein Reservoir an deutschen Wörtern auch schon erschöpft. Seine Frau häkelt derweil still an einer Spitzendecke. Flink huschen ihre dürren Finger über Faden und Nadeln hinweg. Sie wenigstens hat etwas zu tun. Aber er? „Die Deutschen waren anständiger, sie blieben acht Tage bei uns, haben nichts angerührt, und dann gingen sie wieder“, übersetzt Schwester Consolata die Worte des verbitterten Mannes. Im Zweiten Weltkrieg hat er in der kroatischen Armee auf seiten der Deutschen gekämpft und sich mit diesen nach Österreich zurückgezogen. „Doch dann hat Churchill uns Tito ausgeliefert“, erinnert sich der gottesfürchtige Mann, „und es begann der Kreuzweg von Klagenfurt bis Kosovo, zu Fuß bis Mazedonien hinunter.“ Aber all das sei bei weitem nicht so schlimm gewesen wie das, was ihnen vor wenigen Wochen widerfahren sei.
Als die Armee am 18. September Slakovci, ein ausschließlich von Kroaten besiedeltes Dorf, umzingelt hatte, wußten die 1.700 Einwohner, was ihnen bevorstand. Auch die Balents flüchteten einen Tag vor dem Angriff, zunächst ins nahe gelegene Otok, dann, als kurz danach schon auch dieses von der Artillerie beschossen wurde, setzten sie sich um Mitternacht über den Bosut, einen kleinen Fluß, nach Sikirevci weiter in den Westen ab. Die Brücke war bereits zerstört, und so konnten die Armeefahrzeuge ihnen nicht folgen. Aber erst seit sie in Zagreb sind, fühlen sie sich in Sicherheit vor der Armee und vor allem vor den Tschetniks. „Das sind Bestien“, erläutert Vesna, die in der Klinik der nahen Kreisstadt Vinkovci als Zahnärztin gearbeitet hat, „ich kenne sie, ich habe manchem von ihnen das Gebiß geflickt. Seselj, ihr Führer, hat sie im kriminellen Milieu rekrutiert. In einer Hand das Gewehr, in der andern die Flasche.“ Ja, Analgetica würden sie in den Sliwowitz schütten, und dann alle Hemmungen verlieren. „Die Serben haben eben ein sehr tiefes Kulturniveau“, erklärt Schwester Consolata unverblümt, „wir Kroaten haben die römische und illyrische Kultur in uns; sie, die Serben, sind byzantinisch geprägt, von Weißrußland eingewanderte Slawen übrigens.“
Josip Balent ist nur ein Fall von etwa 260.000. In der mehrheitlich von Serben besiedelten Kraijna und Banija sowie in Ostslawonien und der Baranja, wo die Serben eine starke Minderheit bilden, sind ganze Dörfer ausgestorben. Was sich vor einem Jahr noch als Kampf um mehr Autonomie der Serben ausnehmen mochte, hat sich längst als erbarmungslos durchgeführte Strategie entpuppt. Mit Bomben, Artillerie, Massakern und gezieltem Terror werden ganze Landstriche „kroatenfrei“ gemacht. In sämtlichen gemischt besiedelten Gebieten Kroatiens herrscht Krieg. Das Interesse der Armee, ein möglichst großes Stück Jugoslawien zusammenzuhalten, und das Interesse der serbischen Führung in Belgrad, beim Zerfall Jugoslawiens wenigstens ein möglichst großes serbisches Stück vom Kuchen herauszuschneiden, sind längst deckungsgleich. Mit einer kaum mehr verhüllten Politik der Vertreibung wird eine neue ethnische Landkarte gezeichnet, werden Fakten geschaffen, die als Verhandlungsmasse in den politischen Poker um eine Befriedung der Region eingebracht werden.
Die Tschetniks — das waren die Nachbarn
Etwa 35.000 Kroaten sind nach Ungarn geflohen und leben dort zum Teil bei Familien in den traditionell auch von Kroaten besiedelten Grenzgebieten oder in Unterkünften, die der ungarische Staat oder die Kirche zur Verfügung stellen. 20.000 sind bei Verwandten in Slowenien untergekommen. Der übergroße Rest der Flüchtlinge lebt in den zwei Dritteln Kroatiens, die unter der Kontrolle der Regierung in Zagreb verblieben sind, allein in Zagreb etwa 11.000, an die 8.000 in Rijeka und über 16.000 allein in Osijek, das 40 Kilometer vom erbittert umkämpften Vukovar liegt und selbst immer wieder unter Beschuß liegt. „Es sind vor allem Frauen, Kinder und Alte“, erklärt Liliana Moro, „die Männer gehen in der Regel zur Armee“ — nachdem Kroatien sich vor zwei Wochen endgültig unabhängig erklärt hat, ist aus der Nationalgarde offiziell eine Armee geworden. Die Psychotherapeutin und Psychologin leitet ein nationales Projekt zur Betreuung der Flüchtlinge. Mit Dutzenden von Berufskollegen sowie über hundert Sozialarbeitern und Studenten hat sie in ganz Kroatien ein Netzwerk von Workshops aufgezogen. Nein, um Therapie gehe es nicht, stellt die Mittvierzigerin klar, die gerade aus Ungarn zurückgekommen ist und an die dalmatische Küste weiterreisen muß, um in Rijeka die ersten Flüchtlinge aus Dubrovnik zu sprechen. Diese Menschen müßen — so faßt sie ihr dreistufiges Programm knapp zusammen — ihre verständliche Aggressivität zügeln lernen, der Realität ins Auge blicken und überlegen, wie sie gemeinsam in die Zukunft starten können.
Aber welche Zukunft? Miriam, Slobodonka und Marja wissen es nicht. Die drei Frauen kommen aus Drnis, aus der Kraijna, 50 Kilometer vom Adriahafen Split entfernt. Jetzt wühlen sie in den Dutzenden von Kleiderhaufen im Keller der Kirche von Spansko, einem Neubauviertel von Zagreb. Ihre Häuser wurden am 18. September von Tschetniks niedergebrannt. Miriam wohnt nun bei ihrer Schwester in der kroatischen Hauptstadt, Slobodonka bei ihren beiden Töchtern, die in Zagreb studieren und zur Miete sind, Marja ist auf Vermittlung des Pfarrers irgendwo untergekommen. Zurück wollen sie alle, aber wie sollen sie dort je wieder mit den Serben zusammenleben? „Wenn die Tschetniks einmal weg sind?!“ Miriam schüttelt den Kopf ob solcher Naivität. „Die Tschetniks, das sind doch die Serben, die Nachbarn, mit denen wir immer friedlich zusammengelebt haben! Die haben uns nachts überfallen, unsere Häuser geplündert und in Brand gesetzt und uns vertrieben oder zugeschaut, wie man uns das Vieh abgeschlachtet hat.“ Nein, eine Rückkehr nach Drnis, wo nur jeder fünfte ein Serbe war, aber jetzt kein einziger Kroate zurückgeblieben ist, wollen sie sich gar nicht vorstellen. Doch die Alternative, Nahrungsmittel vom Roten Kreuz, Kleider von der Kirche, das Bett bei Verwandten, das tagsüber wieder als Sofa dient, ist auch keine Lösung. Ihre Hände sind Arbeit gewohnt.
Ana Slivar war Gemeindeangestellte in Beli Monastir, eine resolute Frau, der man ihr Unglück kaum ansieht. Von den 56.000 Einwohnern des Ortes in der Baranja an der ungarischen Grenze — 42 Prozent Kroaten, 22 Prozent Serben, 20 Prozent Ungarn — sind 32.000 geflohen, so gut wie alle Kroaten, aber auch viele Ungarn, unter ihnen der Bürgermeister, Mitglied der „Partei der Erneuerung“, zu der sich die alte kommunistische Staatspartei gewendet hat und die in der Baranja wie in Serbien die Wahlen gewonnen hatte. Nach der Eroberung der Stadt durch Armee und Tschetniks gründete ein Teil der kommunalen Angestellten eine Gemeindeverwaltung im Exil — im 30 Kilometer entfernten Osijek, das nunmehr seit Wochen immer wieder unter Beschuß liegt und von einer aus Flüchtlingen der Baranja gebildeten Einheit der kroatischen Streitkräfte mitverteidigt wird. Ana Slivar selbst wohnte im nahe gelegenen ausschließlich von Kroaten besiedelten Grabovac. Mit ihrer alten Mutter ist sie nachts geflohen. Zurückgelassen hat sie ein kleines Landgut mit Schweinen. Von den 6.000 Einwohnern ihres Ortes sind nur 60 geblieben. Die ließen sich auch vom Roten Kreuz nicht überreden. Was mit ihnen passiert ist, weiß sie nicht. Aber daran mag sie gar nicht denken.
Wer allein die Geschichten der etwa 50 Frauen im Keller der Kirche von Zagreb-Spansko zusammentragen würde, erhielte schon ein ziemlich genaues Bild dessen, was sich im Spätsommer und Herbst 1991 in Kroatien wirklich zugetragen hat. Es ist eine Geschichte von Krieg, Terror und Massenflucht, die sich nun nicht mehr im fernen Äthiopien oder El Salvador, sondern bei uns in Europa vor der Haustür ereignet. „Aber Europa ist weit weg“, hört man in Zagreb immer wieder, „Europa schaut zu, Europa will nicht verstehen. Europa tut nichts.“
Ein Pfarrer organisiert Kartoffeln und Zwiebeln
Anders Antun Prpic. „Am Tag nach Mariä Geburt“ habe er seine Gläubigen zur Hilfe aufgerufen, erzählt der 43jährige Pfarrer, ein hemdsärmeliger Typ von 43 Jahren, und nun kommen die Flüchtlinge schon seit über einem Monat, um sich in seiner Kirche einzukleiden, und nicht nur hier, an die hundert Pfarreien dürften es in Zagreb inzwischen sein, die sich um die mindestens 11.000 Vertriebenen bemühen, die in der Hauptstadt untergekommen sind. Für weitere 90.000 ist Zagreb Durchgangsstation. Die Not ist groß, und so hat der der Kirchenmann einen Brief an seine bayerische Partnerpfarrei in Schirling geschrieben. Prompt wurden 400 Decken geschickt, gerade rechtzeitig zum Winter. „Die geben wir nur gegen Vorlage des Flüchtlingsausweises aus, und dann notieren wir die Nummer.“ Antun Prpic weiß natürlich, daß sich mitunter auch andere Bedürftige aus dem Spendenmaterial bedienen. Nein, da wolle man keine Kontrolle einführen. Aber bei den Decken werde es eben knapp. Aber nicht nur Kleider und Decken, auch eine Ladung von einer Tonne Lebensmittel — Kartoffeln, Mehl, Zwiebeln, Schweinefett und Bohnen — hat der engagierte Pfarrer diese Woche organisiert. Den Transport besorgt die „Dalekovod“, eine der größten Firmen Zagrebs. Deren Direktor gehört schließlich der Pfarrgemeinde Spansko an.
Antun Prpic selbst stammt aus Vocin, einem Wallfahrtsort in Slawonien mit 800 Kroaten und 4.000 Serben — „viel zu vielen“, wie er halb, aber eben nur halb, ironisch meint. Der Ort, wo er selbst zehn Jahre lang Pfarrer war, ist zur Zeit unter Kontrolle der jugoslawischen Armee und Prpics Vater also eine der 800 Geiseln, deren Schicksal so ungewiß ist wie das der Franziskanerkirche, die mit ihren einmaligen Gewölben im Stil der Wladislawschen Gotik zu den Kulturdenkmälern erster Güte gehört. In der Tat hat die Armee in den letzten Monaten viele Kirchen und kunsthistorisch wertvolle Gebäude Kroatiens zerstört. Ein Ausdruck eben der „doch etwas niedrigeren Kultur der Serben“, wie Antun Prpic vorsichtig formuliert. Der Pfarrer hat gewiß nichts gegen die Serben, aber Europa, zu dem doch die kroatische Metropole an der Save mit ihrer christlichen Tradition, ihren barocken Bauten und all ihrem Flair des verflossenen Habsburger Reiches gehört, scheint für ihn — wie für viele Kroaten — irgendwo an der Drina zwischen Zagreb und Belgrad aufzuhören.
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