piwik no script img

Entgrenzung macht Angst

■ Mit Überwindung der Mauer sind gepflegte Leitbilder erschüttert worden. Kinder- und JugendtherapeutInnen reflektierten am Wochenende das entstandene Vakuum.

Entgrenzung macht Angst Mit Überwindung der Mauer sind gepflegte Leit- bilder erschüttert worden. Kinder- und JugendtherapeutInnen reflektierten am Wochenende das ent- standene Vakuum.

Spaltung — Erscheinungsformen und Überwindungsmöglichkeiten“ — als die Westberliner Regionalgruppe der „Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichentherapeuten“ vor zwei Jahren dieses Thema für ihre jetzige 38. Jahrestagung vorzubereiten begann, ahnte sie noch nicht, wie aktuell es werden würde. Rund 300 PsychotherapeutInnen diskutierten am Wochenende in Berlin über die psychischen und politischen Aspekte der Spaltung und welch desaströse Folgen auch ihre Aufhebung haben kann.

Der gegenwärtig so schrecklich aufflammende Fremdenhaß, so formulierte die Vereinigungsvorsitzende Annelies Arp-Trojan aus Hamburg zu Beginn der Versammlung, sei schließlich auch ein Ausdruck eigener unaushaltbarer Minderwertigkeitsgefühle. Denn nunmehr gehe es bei den Ostlern „um die Scham des zumindest vermeintlich verlorenen Lebens“ und bei den Westlern „um die Scham, dem begegnen zu müssen, was man glaubte, längst hinter sich gelassen zu haben“. Viele Kinder und Jugendliche, wußte der Berliner Günther Molitor aus seiner Praxis zu berichten, reagierten mit „massiven Bedrohungsgefühlen“ auf die neue Situation in der Stadt. „Viele denken, sie müßten sich bewaffnen.“ Und ihre Leitbilder, die Erwachsenen, trudelten genauso durch die Gegend, verunsichert durch die all zu nahe Nähe zum früheren Erzfeind im Westen. Das schaffe „ein Vakuum“, wohl auch für politische Kräfte. Der Haß auf die Ausländer, ergänzte Hanna Kotowski aus München, biete da ein willkommenes Ventil für Aggressionen zwischen Ossis und Wessis, die auszudrücken der Nationalstolz oder die öffentliche Meinung nicht erlaube.

Nicht zu Unrecht fühlen sich die KindertherapeutInnen — übrigens in der großen Mehrheit Frauen und aus dem Westen, da die Psychoanalyse in der DDR verboten war — als Fachleute des Spaltungsphänomens. Eine ihrer „Urmütter“, die Freud-Anhängerin Melanie Klein, hatte schon in den zwanziger Jahren eine Theorie der kindlichen Entwicklung entworfen. Danach ist das Kleinkind um des Überlebens willen auf die Aufspaltung der mütterlichen Allmacht angewiesen: in die „gute“ und in die „böse“ Mutterbrust, die sich dem Baby entzieht. Wenn dem Kind tatsächlich elterliche Liebe entzogen oder vorenthalten wird, bleiben solche infantilen Spaltungsmuster auch später erhalten und verursachen unter Umständen schwere psychosomatische Störungen wie Magersucht, Bettnässen oder auch Asthma und Neurodermitis. Von Projektionen selbstverleugneter Gefühle auf Außenstehende, darauf wies die Analytikerin Isca Salzberger-Wittenberg hin, ist jedoch niemand frei: „Wir alle verfallen täglich in paranoide Vorstellungen, indem wir andere unverdient wegen irgendetwas beschuldigen.“ Fremde Menschen oder Systeme müßten dann dafür herhalten, daß wir unseren abgespaltenen Haß, Angst oder Neid in ihnen „wie in einem Container“ ablagern.

Methodisch vielleicht ein wenig zu leger, glaubten die DiskutantInnen in der Mauer die Verdoppelung dieser psychischen Realitäten auf der politischen Ebene sehen zu können. Hinter ihr habe schließlich, egal ob von Osten oder Westen aus gesehen, das „Reich des Bösen“ begonnen. Und: Die DDR als „psychotisches System“ habe diese „starre Grenze“ benötigt, so Hanna Kotowski, weil sie sich „ständig aufzulösen drohte“. Innerhalb dieses Systems habe „scheinbare Ruhe“ geherrscht, weil „seine Opfer nicht gesehen wurden“. Nun aber, „da starre Grenzen zu grünen Grenzen in ganz Europa werden, brechen die Konflikte auf“. Auch die Atombombe habe lange Zeit „als Container für die gesamte Gewalt“ dienen müssen, jetzt aber kehre diese Gewalt „überall in Europa an kleine oder mittlere Schauplätze zurück“.

Frau Kotowski, nach eigenem Bekunden früher eine treue Freundin des Kommunismus, zog daraus die Konsequenz, den linken Menschheitsutopien insgesamt abzuschwören. Je sehnlicher man auf einen dadurch herstellbaren „intrauterinen Zustand der Glückseligkeit“ hoffe, so ihre Begründung, desto gewalttätiger verlaufe die Abspaltung derjenigen, die sich dem nicht fügten. Eine Argumentation, die keineswegs ohne Widerspruch blieb: „Man muß sich Bilder von einem besseren Leben machen dürfen“, so Gaby Teckentrupp aus Hamburg. Und, so warf eine andere Therapeutin ein: „Ist es nicht auch eine Abspaltung in der westlichen Gesellschaft, wenn wir uns weiter einbilden, unseren Versorgungszustand auf Kosten der Dritten Welt auf Dauer erhalten zu können?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen