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Programmierte Wunder

Es gibt ihn noch: Ian Anderson, den exaltierten Flötisten, der auf Waldschrat macht. Unangefochten weitermachen erweist sich als lohnende Strategie, auch wenn das Durchschnittsalter des Publikums kaum höher liegt als das Alter der Band Jethro Tull, die 1968 gegründet wurde.

Es ist Andersons Band, und jetzt, wo von der erfolgreichen Besetzung von Anfang der siebziger Jahre (Thick as a Brick) nur noch der Gitarrist Martin Barre übrig ist, wird um so krasser deutlich, wie terroristisch der virile Bandleader die Formation verwaltet. Er trägt das Kostüm der alten Tage, die weichen, engen Hosen, die das Geschlecht vorzeigen, und eine ärmellose samtene Weste. Er spielt abwechselnd das Rumpelstilzchen, den Hardrock-Bandleader und den Maestro eines größeren Orchesters; und die vierköpfige Begleitband reproduziert für eine gute Stunde gründlich und einfallslos das Repertoire, zur Hälfte von der neuesten Platte, Catfish Rising: gestriegelte Jungs, eingebunden in das Bühnen-Set eines Restaurants, der Synthiespieler versteckt hinter einer Pseudo-Bar. Ein billiger Gag mit Folgen: ein untätiger Koch auf der Bühne, was für eine fürchterliche Rolle, selbst für einen Statisten.

Folk und Hardrock, beides ist groß angesagt; die fragile Textur einer Band wie Police, die kontrollierte Rhythmik und rhythmische Motorik der Talking Heads im Begriff, vergessen zu werden, oder verdrängt. Andersons Musik ist Ausdruck des launisch Expressiven: Da wird ein galoppierendes Leitmotiv abgebrochen, um einer volkstümlichen Illustration Platz zu machen; und jede Steigerung des Sentiments ist darauf angelegt, Anderson als Saitenmann (auf der elektrischen Mandoline oder Gitarre) oder hart überblasendem Flötisten die Ausschmückung des Klimax zu überlassen. Der musikalische Schaum wird dann mit dem Abschalten des Spots in nichts aufgelöst. Das programmierte Wunder wird als solches aufgenommen. Wenn sie entsprechend angeleitet werden, klatschen die Leute brav das, was sie für den Takt halten: ein paar Tausend in den orthopädischen Sitzen des Saals 1 der Kongreßhalle ICC in Berlin, an der Autobahn.

Nach der schulbuchmäßigen ersten Stunde gerät die Technik — bis dahin auf fast sterile Weise akkurat — außer Kontrolle. Die Instrumente sind offenbar eine Spur lauter gestellt worden, und Andersons näselnde Stimme, die zumindest auf Platten einen guten Resonanzkörper hat, geht nahezu unter. Selbst ein so klar gebauter Song wie Locomotive Breath (Zugabe) verschwimmt in einem Wust von Nebengeräuschen und Effekten. uez

Jethro Tull auf Tournee, wird fortgesetzt.

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