: Beleidigung ist im Service inbegriffen
Muzaffer, der Barbier aus Istanbul, besitzt bereits seit 51 Jahren seinen eigenen Laden ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Der Besuch bei Muzaffer ist eine Möglichkeit, sich von den Schlechtigkeiten dieser Welt zu erholen. Wenn er die Schere ansetzt, während die Vögel in seinem Laden zwitschern, vergißt man privaten und beruflichen Streß. Manchmal schiebt er guten Kunden sogar einen Gläschen Wodka hin — alles Böse vergessen, sich dem befreienden Gefühl des Rasiertwerdens hingeben.
Der 63jährige Muzaffer ist mein Friseur. Sein Laden hat eine Wirkung auf mich, die nur wenige Orte ausüben. Sie ist vielleicht am ehesten mit der Wirkung eines türkischen Bades, des hamam, vergleichbar, wo man stundenlang schwitzend vor sich hindösen kann. Schon das Interieur des Friseurladens verrät, daß hier nicht nur der profane Akt der Haar- und Bartrasur durchgeführt wird. Der Raum wirkt häuslich. Unweigerlich wandert der Blick zu den Fotografien, von denen Hunderte an den Wänden hängen, und zu den Vögeln in den Käfigen, die an der Decke baumeln. Während der Rasur kann man sowohl durch das Fenster als auch durch den großen Spiegel das Straßengeschehen beobachten — spielende Kinder, Gemüse- und Fischhändler.
Mit neun Jahren hat Muzaffer zum ersten Mal Hand an einen Bart gelegt. „Damals gab es noch die schönen alten Rasiermesser, die man am Schleifriemen abwischen mußte. Ich war sehr aufgeregt. Meine Hände und Knie zitterten.“ Inzwischen ist Muzaffer ein erfahrener Friseur und besitzt bereits seit 51 Jahren sein eigenes Geschäft. „Rund 50 der Leute, die du auf den Fotografien hier siehst, sind bereits gestorben. Gott habe sie selig.“ Der Generationswechsel im Stadtteil ist in Muzaffers gerahmten Fotografien festgehalten.
Wie wird man ein guter Friseur? „Es sind die Augen“, sagt der Brillenträger Muzaffer. „Das Sehvermögen ist entscheidend. Du mußt die Hände und Bewegungen der Meister beobachten, um davon zu lernen.“ Doch die Augen sind nicht nur für die Rasiertechnik wichtig, sondern auch für die zweite Hauptaufgabe des Friseurs: Er muß einen umfassenden Überblick über das Sozialleben im Stadtteil haben.
Zur Rasur gibt es Klatsch und Tratsch: Hier werden schlüpfrige Witze erzählt, Männer schimpfen auf ihre Ehefrauen, auf Teuerung und Inflation. Und es gibt Kunden, die einfach nur schweigen und zuhören. Denn wer weiß besser als der Friseur darüber Bescheid, wer die nächsten Wahlen gewinnen wird? „Wir sind am Puls des Volkes“, sagt Muzaffer. „Die Neuigkeit von der Geburt eines Kindes oder eine Todesnachricht erreicht zuerst meinen Friseurladen.“
Er arbeitet wie eine Nachrichtenagentur. „In vielen Fällen schreibe ich die Todesnachrichten auf die Wandzeitung“, erzählt der Friseur. Die Wandzeitungen werden an die große Platane vor dem Laden gehängt. Tag für Tag ist die Nachrichtenzentrale besetzt. Morgens um sieben Uhr öffnet Muzaffer seinen Laden. Um acht Uhr abends wird dichtgemacht. Doch auch anschließend weiß jeder, wo Muzaffer zu finden ist: Er sitzt bei einem Glas Raki in seiner Wohnung, die er sich über dem Laden eingerichtet hat.
Muzaffer wirkt auch als Therapeut. Im Laden der großen Freiheit ist alles erlaubt. „Zuhälter“ ist eines der übelsten Schimpfwörter im Türkischen — auf offener Straße oder im Restaurant ein Grund für eine Messerstecherei. Doch Muzaffer läßt sich alles bieten. Man darf ihn lauthals mit den übelsten Schimpfwörtern überhäufen. Dieser Service ist im Haarschnitt inbegriffen. „Ich wollte, daß mein Sohn auch Friseur wird. Doch er sagte mir, daß er nur unter der Bedingung Friseur wird, daß die Beleidigungen und Beschimpfungen aufhören. Aber das ist nicht möglich. Das gehört nun einmal zu jedem anständigen Laden.“ Das funktioniert jedoch auch umgekehrt: „Manche“, vertraut mir Muzaffer an, „kommen hierher, damit ich auf sie fluche.“ Muzaffer ist eben Menschenkenner. „Manchmal beklagen sich Kunden, daß der Haar- oder Bartschnitt nicht gleichmäßig sei. Dann setze ich die Schere an und schneide irgendwo eine Kleinigkeit ab. In Wirklichkeit hat sich nichts an der Frisur verändert. Doch der Kunde ist plötzlich zufrieden. Du mußt es halt verstehen, jedem um den Bart zu gehen.“
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