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■ Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte / Kursbuch 104 / Listen / Wespennest / Neue Rundschau / Lettre International Nr. 14

M I C H A E L B R A U N „Wer wissen will, was im intellektuellen Deutschland diskutiert wird, sollte noch immer das Feuilleton der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ lesen.“ Ist der Respekt, der in diesem Satz Detlev Claussens anklingt, noch immer vonnöten gegenüber den klugen Köpfen im „Zeughaus der Reaktion“ (Alfred Andersch)? Müssen wir es noch immer täglich lesen, das „frankfurter allgemeine geröchel“, das H.M. Enzensberger einst spöttisch bedichtete, bevor er selbst in es einstimmte? Im nicht mehr ganz druckfrischen, gleichwohl höchst lesenswertem Augustheft der 'Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte‘ zeigt Detlev Claussen, daß es mittlerweile gewichtige Gründe gibt, den intellektuellen Hegemonieanspurch des FAZ-Feuilletons in Frage zu stellen. Seit Mitte der achtziger Jahre, so Claussen, hat eine nationalkonservative Politisierung des FAZ-Feuilletons begonnen, exekutiert von einer „Generation von aggressiven Jungakademikern“, die ihren ganzen Eifer daran setzen, der kritischen Gesellschaftstheorie den Garaus zu machen. Claussens grimmige FAZ- Kritik paßt in das Bild, das der Herausgeber der 'Neuen Gesellschaft‘, der sozialdemokratische Trenddetektiv Peter Glotz, von der Wiederkehr der „konservativen Intelligenz“ gezeichnet hat. Im Editorial des Augustheftes, das sich ausführlich mit der Renaissance der konservativen Intelligenz beschäftigt, nährt Glotz seinen Verdacht, „daß die Söhne von Martin Heidegger und Carl Schmitt im vereinigten Deutschland wieder Oberwasser bekommen“. Den Vordenkern eines aufgeklärt-moderaten Konservativismus werden in diesem Heft ebenso einfühlsame Porträts gewidmet wie auch dezidiert nationalrevolutionären Theoretikern in der Grauzone zum Rechtsradikalismus. Weil Glotz im Editorial noch warnend die Stimme erhebt, nimmt man anschließend doch recht überrascht zur Kenntnis, daß sich die Verfasser der Porträts voller Respekt, mitunter fast ehrfürchtig vor der „kleinen, aber feinen Truppe“ der geistreichen Konservativen verneigen. Dem Verleger Wolf Jobst Siedler, dem Journalisten Johannes Gross, dem streitlustigen Literaturbohemien Karl Heinz Bohrer — ihnen allen schlägt, trotz punktueller Kritik, unverhohlene Bewunderung entgegen. Jürgen Busche läßt sich sogar in seiner Laudatio auf Johannes Gross zu der Behauptung hinreißen, dessen Notizbücher seien „ganz gewiß das Klügste, was in den achtziger Jahren über die achtziger Jahre geschrieben wurde“. Vollkommen unerfindlich bleibt schließlich, welchen Qualitäten eigentlich die in der 'Neuen Gesellschaft‘ ebenfalls gerühmte Ex-Germanistikprofessorin und Unternehmensberaterin Gertrud Höhler ihren guten Ruf verdankt. Ihre Gedanken, die sie in einem Dutzend Büchern, wirkungsmächtiger jedoch in zahlreichen Talkshow-Auftritten verbreiten durfte, sind jedenfalls von auffälliger Schlichtheit. Aber sie wird ebenso über den grünen Klee gelobt wie der Carl-Schmitt-Epigone Günter Maschke, eine Figur aus einem ganz anderen, nämlich kampfentschlossen-nationalrevolutionären Milieu. So reibt man sich am Ende doch verwundert die Augen, wenn man die fast durchweg brillant geschriebenen Porträts in der 'Neuen Gesellschaft‘ zu einem Gruppenbild der „konservativen Intelligenz“ zusammensetzt. Fast will es scheinen, als habe sich eine sozialdemokratisch orientierte Theoriezeitschrift freiwillig in eine Festschrift für geistreiche Konservative verwandelt.

An Identitätsproblemen laboriert seit einiger Zeit auch das ehrwürdige 'Kursbuch‘. Im bislang kaum beachteten Heft 104, in dem sich die ausgemusterten Funktionäre des Weltgeistes ihrer aktuellen Positionen vergewissern, tritt die Linke im Büßerhemd auf. Es hat schon seine eigene Komik, wenn man sich ausgerechnet in der Zetischrift, die einst als scharfsinniges Zentralorgan einer kulturrevolutionär interessierten Gesellschaftsanalyse auftrumpfte, in Entzauberungen der Intellektuellenrolle und Ernüchterungen der Sozialismusillusion gegenseitig überbietet. Mit der gleichen naßforschen Gewißheit, mit der man um 1968 die Revolte predigte, räumt man nun gründlich auf mit allem gedanklichen Sperrgut, das über das Bestehende hinauszuweisen wagt. Ärgerlich ist dabei weniger die Entschlossenheit, alle utopischen Ideale über Bord zu werfen, als vielmehr dieser großspurige Gestus des Besserwissens, die als Selbstkritik maskierte Unbeirrbarkeit, mit der man über die linken Nostalgien der 68er Generation herfällt, als habe man alles schon vorher gewußt. Thomas Schmid zum Beispiel höhnt über die „gigantische Zeitverschwendung“, die 70 Jahre realer Sozialismus der Weltgeschichte beschert hätten: „Der Sozialismus ist, wie ein dürftiger, aber zutreffender Kalauer weiß, das schwierige Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Kapitalismus.“ Solche naseweisen Bemerkungen präludieren eine demokratietheoretische Melodie, die einem ziemlich bekannt vorkommt. Mit einigen gemeinplätzlichen Lektionen in Demokratiekunde öffnet Schmid das Tor zur Erkenntnis, daß die repräsentative parlamentarische Demokratie doch die potentiell beste aller möglichen Welten darstellt. Es hat schon etwas Rührendes, wenn nun im 'Kursbuch‘ das Loblied auf Karl Popper gesungen wird, den Theoretiker der „Offenen Gesellschaft“, den man lange genug als Apologeten des Kapitlaismus verspottet hatte. Schmids Requiem auf die kritsche Gesellschaftstheorie wird flankiert von einem ironischen Aufsatz des FAZ-Redakteurs Henning Ritter, der für die theoretischen Anstrengungen der linken Intelligenz nur Spott übrig hat. Unter Berufung auf den konservativen Kulturanthropologen Arnold Gehlen mokiert sich Ritter über die „objektlose Aufsässigkeit“ und „reich informierte Weltfremdheit“ der linken Intellektuellen, deren Kraft zur Negation sich endgültig verbraucht habe.

Ziemlich erbost über Ritters derbe Provokationen zeigen sich nun Karl und Bruno Piberhofer, die Herausgeber der Frankfuerter Rezensionszeitschrfit 'Listen‘. Im 'Listen‘- Gespräch mit dem 'Kursbuch‘-Mentor Karl Markus Michel fragen sie denn auch nach dem aktuellen Selbstverständnis der Zeitschrift, die neuerdings FAZ-Redakteure zur Kursbestimmung benötigt. Ein allzu abgeklärt und müde wirkender Michel zeigt aber wenig Neigung, die Notwendigkeit des 'Kursbuchs‘ zu verteidigen, im Gegenteil. Die Weiterführung der Zeitschrift nach Heft 100 (im Rowohlt Verlag Berlin) verdanke sich, so Michel, allein dem ökonomischen Interesse, in der ehemaligen DDR Fuß zu fassen: „Das war eine Illusion, die wollen da andere Kurse machen.“

Was bleibt da anderes, als sich über den eigenen Bedeutungsverlust hingwegzutrösten und ab und zu ein wenig neidisch auf Osteuropa zu blicken, wo die Intellektuellen triumphal die politische Bühne betreten haben. Aber auch unter Osteuropas Intelligenz ist längst Ernüchterung eingekehrt. Zwar befinden sich noch immer Schriftsteller und Intellektuelle in hohen und höchsten Staatsämtern: Vaclav Havel und Jiri Grusa in der ČSFR, Arpad Göncz in Ungarn. „Dennoch“, so resümiert György Dalos in der österreichischen Zeitschrift 'Wespennest‘ (Heft 84), „muß man insgesamt von einem politischen Gewichtsverlust der Literaten sprechen.“ In einer ersten Bilanz der neuen kulturellen Situation nach dem Ende des realen Sozialismus beschreibt Dalos die zwiespältigen Folgen der freien Marktwirtschaft. Nachdem in der euphorischen Aufbruchsstimmung des Jahres 1989 Dutzende neuer Verlage und Zeitschriften gegründet wurden, zeichne sich jetzt das jähe Ende der publizistischen Gründerzeit ab. Dalos zitiert einen ehemaligen Samisdatverleger, der davon berichtet, daß ihm ein Jahr freie Marktwirtschaft mehr Schaden zugefügt habe als alle Verfolgungen durch den Geheimdienst. Ihrer exklusiven Dissidentenrolle beraubt, muß sich auch die osteuropäische Intelligenz neu orientieren. In seiner ihm eigentümlichen skeptischen Ironie vrsucht György Konrad „die Rolle der Intellektuellen in einem sich wandelnden Europa“ zu bestimmen. Konrads Aufsatz, der im Zentrum des spannenden 'Wespennest‘- Dossiers über ungarische Literatur steht, ist ein Musterbeispiel für ein behutsames politisch-philosophisches Denken, das Distanz hält gegenüber jedweder Ideologie. Er warnt vor der nicht nachlassenden Suggestionskraft kollektivistischer Denksysteme, die nach dem Ende des realen Sozialismus erneut virulent werden. „Es fragt sich“, so pointiert Konrad, „ob der verborgene Faschist im osteuropäischen Raum erkannt wird ... die Wahrscheinlichkeit nationalistischer Diktaturen nimmt zu.“

Ähnliche Tendenzen wie in Ungarn vermelden die Intellektuellen in der Sowjetunion. Im aktuellen Heft der 'Neuen Rundschau‘ (3/1991) diagnostizieren Swetlana Beljajewa- Konegen und Dmitrij Prigow den „Tod des heiligen Schriftstellers“. Der Schrifsteller als „Idealtypus des russischen Menschen“ drohe im Zuge der Liberaliserung auf westliche Größendimensionen zusammenzuschrumpfen. Daß in Rußland dennoch der Glaube an die mystische Macht des Wortes lebendig geblieben ist, zeigt die faszinierende Reportage der amerikanischen Autorin Jamey Gambrell. In einer Gesellschaft, in der zuverlässige Informationen und Nachrichten nach wie vor knapp sind, avanciere eben das Gerücht zum primären Kommunikationsmedium. So werde das öffentliche Leben beherrscht von den phantastischen Wucherungen der Gerüchte, Spekulationen, Klatschgeschichten und Verschwörungstheorien — die noch immer unerläßlichen Informationsalternativen zu den Halbwahrheiten der offiziellen Regierungsverlautbarungen. Jedes politische Ereignis in der Sowjetunion ist daher umgeben von einem undurchdringlichen Nebel aus Dichtung und Wahrheit. Eine schwer durchschaubare Mischung aus Fakten und Fiktionen enthält in der 'Neuen Rudnschau‘ auch das Gespräch zwischen den beiden Schriftstellern Leonid Prudowski und Wenedikt Jerofejew. In Erwartung seines nahe bevorstehenden Todes hat hier Wenedikt Jerofejew — er starb im Mai 1990, ein Jahr nach dem Interview, an Kehlkopfkrebs — alle Rücksichten fallenlassen und erzählt assoziativ-chaotisch von seinem bewegten Schrifstellerleben zwischen Alkoholismus, Publikatonsverbot und Schreibrausch. Dem ziemlich verwirrenden Interview sind neben einigen Kraftsprüchen Jerofejews (zum Beispiel über Trotzki: „Diese Judensau, diese Hure der Politik, den würde ich mit dem Kandelaber erschlagen“) nur wenig nachprüfbare Fakten zu entnehmen. Die meisten biographischen Angaben und auch die zahlreich eingestreuten Schriftstellernamen sind in höchstem Maße kommentarbedürftig. Leider läßt einen die 'Neue Rundschau‘ da gänzlich im Stich. — Hilfreicher ist da schon das neue Heft von 'Lettre International‘ (Heft 14), das einige Notizen Jerofejews aus dem Jahr 1981 publiziert — und kommentiert. Es handelt sich um funkelnde Aphorismen und knappe Kommentare zu Lesefrüchten aus Zeitungen und Büchern. Aus diesen Notizen spricht die Stimme eines vereinsamten und desillusionierten Schriftstellers, der auf die Zumutungen des monolitischen Sowjetstaates mit schwarzem Humor und bitterem Sarkasmus regiert. Im Zentrum von 'Lettre‘ steht eine Erzählung des Literaturtheoretikers George Steiner, der vor Jahresfrist mit seinem Versuch einer Retheologisierung der Kunst (Von realer Gegenwart, Hanser 1990) einiges Aufsehen erregt hat. Steiners faszinierende Erzählung handelt von einem politischen Häretiker, einem abtrünnigen italienischen Kommunisten, der hartnäckig an seinen politischen Idealen festhält und am Ende in den Schoß der Partei, die ihn einst ausgeschlossen hatte, zurückkehren will. Seinen Antrag auf Wiederaufnahme stellt er paradoxerweise zu einem Zeitpunkt, da der reale Sozialismus seinen Zusammenbruch bereits hinter sich hat und die kommunistischen Parteien in Westeuropa sich aufzulösen beginnen. Der Dissident als tragikomische Figur: Seine Rückkehr in die Kommunistische Partei Italiens ist unmöglich geworden, denn die Partei gibt es nicht mehr. Steiners Erzählung ist angelegt als großer Diskurs über Glauben und Häresie, über Christentum, Judentum und Marxismus, über die Kongruenz christlicher und marxistischer Heilsversprechen und über den Traum von der klassenlosen Gesellschaft. Die zwei Protagonisten seiner Erzählung stehen sich wie zwei dialektisch versierte Philosophen gegenüber: zum einen der Priester Carlo, der die Lügen und barbarischen Menschheitsverbrechen des Kommunismus geißelt, zum andern der Dissident, ein universell gebildeter Korrektor, der die sozialistische Utopie nicht aufgeben will: „Kommunismus bedeutet die Errata aus der Geschichte zu tilgen. Aus dem Menschen. Korrekturlesen.“ Beide, der Priester wie der Korrektor, sind Schriftgläubige, besessen von der Wahrheit ihrer heiligen Schriften: der Bibel, der Kabala, den Werken von Marx und Gramsci. Aber am Ende steht jedoch die Bewußtseinstrübung, der Realitätsverlust, der sich — in etwas plakativer Symoblik — in der Augenkrankheit des Korrektors manifestiert. So hat sich die Wahrheit für den Helden endgültig verdunkelt, ihr Medium, die Schrift, ist für ihn unlesbar geworden.

—'Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte‘ 8 (1991), Verlag J.H.W. Dietz, In der Raste 2, 5300 Bonn 1, 96 Seiten, DM 12,80

—'Kursbuch‘ 104 (1991), Rowohlt Verlag Berlin, Einsteinufer 63a, 1000 Berlin 10, 184 Seiten, DM 13,—

—'Listen‘ 25 (1991), Jordanstr. 14, 6000 Frankfurt/M. 90, 66 Seiten, DM 8,—

—'Wespennest‘ 84 (1991), Walter Famler, Rembrandtstr. 31/9, A-1020 Wien, 76 Seiten, DM 12,—

—'Neue Rundschau‘ 3 (1991), S.Fischer Verlag, Postfach 700 335, 6000 Frankfurt/M. 70, 180 Seiten, DM 15,—

—'Lettre International‘ 14 (1991), Dominicusstr. 3, 1000 Berlin 62, 96 Seiten, DM 13,—

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