piwik no script img

Jelzin will „Garantie gegen den Totalitarismus“

■ Jelzin erläuterte vor dem russischen Kongreß den Entwurf einer neuen Verfassung/ Rußland soll in Länder gegliedert werden

Moskau (ap) — Der russische Präsident Boris Jelzin hat am Samstag vor dem Parlament in Moskau den Entwurf einer neuen Verfassung erläutert. Demnach soll Rußland in einen „vereinigten Staat“ mit „festen rechtlichen Garantien gegen Totalitarismus, ideologische Kontrolle und Gewalt“ umgewandelt werden.

Jelzin, der am Vortag schon außerordentliche Vollmachten für die Reformierung von Staat und Wirtschaft erhalten hatte, sagte, die bisherige Verfassung Rußlands stehe den angestrebten radikalen Reformen im Wege. Die Abgeordneten mahnte er mit den Worten zur Eile: „Wir haben nicht das Recht, die Gelegenheit zu versäumen, verfassungsmäßige Barrieren gegen Chaos und Desintegration zu errichten.“ Das neue Grundgesetz garantiere die gegenseitige Kontrolle von Regierung und Parlament, die Koalitionsfreiheit und die Meinungsfreiheit. Auf diese Weise solle „eine zivile Gesellschaft“ geschaffen werden. Jelzin wies darauf hin, daß bereits ein Verfassungsgericht ins Leben gerufen worden sei.

Die Ankündigung Jelzins, daß ein „vereinigter Staat“ das Ziel sei, signalisiert nach Ansicht von Beobachtern zusammen mit Bestimmungen des Entwurfs das Bestreben des Präsidenten, separatistischen Tendenzen in Rußland entgegenzuwirken. Jelzin sagte auch, die verschiedenen Regionen des Landes sollten einen Föderationsvertrag unterzeichnen, der sie an eine gemeinsame Regierung binde.

Die Russische Föderation soll nach dem Willen von Präsident Boris Jelzin in Länder gegliedert werden, die mit den gleichen Rechten ausgestattet sind wie die bisherigen Autonomen Republiken.

Jelzin sprach sich in seiner Rede gegen eine Beseitigung der überwiegend von Nichtrussen bewohnten Autonomen Republiken innerhalb der Russischen Föderation aus, doch ließ er offen, ob diesen das Recht des Austritts eingeräumt werden soll. Weiter sagte er, er würde es begrüßen, wenn die Republiken und Länder einen Föderationsvertrag unterzeichnen, der ihren Verbund in einem „gemeinsamen Staat“ regelt.

In dieser Präsidialrepublik sollen gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt streng von einander getrennt, die Autorität des Parlaments als Garantie gegen einen Machtmißbrauch des Präsidenten gestärkt werden. Als wichtigstes Merkmal des Entwurfs bezeichnete Jelzin die Entideologisierung und die Abschaffung von Privilegien.

Erstmals in der Geschichte Rußlands werde das Volk nicht mehr den Bedürfnissen des Staats untergeordnet sein; dessen erste Pflicht werde vielmehr darin bestehen, die Menschenrechte zu achten, erklärte der Präsident. Im Entwurf der neuen Verfassung seien darum Garantien gegen einen neuen Totalitarismus eingebaut.

Die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung begründete Jelzin mit den Worten, die noch geltende Verfassung habe sich als Bremse beim Aufbau eines Rechtsstaates und als Hürde für radikale Reformen erwiesen, so daß man von einer Verfassungskrise sprechen müsse. Mit bloßen Änderungen und Ergänzungen des bisher geltenden Grundgesetzes sei dem Problem nicht mehr beizukommen.

Der Präsident forderte den Kongreß auf, sich darüber Gedanken zu machen, ob man den Verfassungsentwurf einer Volksabstimmung unterwerfen sollte. In der Aussprache kam es dann zu einer teilweise erregten Debatte über jene Teile des Entwurfs, die sich mit der künftigen föderativen Struktur Rußlands befassen.

Einige Abgeordnete erklärten, die Gliederung in Republiken und Länder würde schmerzliche Grenzveränderungen bedeuten und Rußland unregierbar machen. Deputierte aus Autonomen Republiken werteten es als Beeinträchtigung der Rechte dieser Republiken, daß sie keinen anderen Status genießen sollten als die anderen künftigen Gliedstaaten der Föderation.

Der Kongreß beschloß, die Debatte über eine neue Verfassung im Frühjahr kommenden Jahres wieder aufzunehmen. Der Oberste Sowjet und der Verfassungsauschuß wurden beauftragt, bis dahin den Entwurf zu vervollkommnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen