: Lenin im Morgengrauen
■ Das umstrittene Friedrichshainer Denkmal wurde gestern doch nicht abgerissen/ Zeltwache einer Bürgerinitiative und wieder Diskussionen
Friedrichshain. Morgens um halb sieben kam der Bautrupp. Von einer einstweiligen Verfügung war den Arbeitern nichts bekannt, sie wollten auftragsgemäß mit dem Abriß des Lenin-Denkmals beginnen. Den Eingang aber versperrten etwa 50 Mitglieder der Bürgerinitiative, die schon die ganze Nacht im Zelt ausgeharrt hatten, um die endgültige Demontage zu verhindern. »Mir ist das doch total egal hier«, ließ der Polier nach einer viertelstündigen Diskussion verlauten, »wenn das hier nicht geht, geh' ich wieder nach Hause.« Da sich auch die Polizei nicht genötigt sah, den Eingang freizuräumen, zogen die Bauarbeiter wieder ab.
Seit sieben Uhr blickt der umstrittene Genosse fürs erste noch einmal unangefochten auf die Diskussionen nieder, die sich zu seinen Füßen entspinnen. »Uns geht es um einen vernünftigen Umgang mit Geschichte«, sagt Erika Biskup, die zur Bürgerinitiative gehört. Es sei nicht alles schlecht gewesen, und »die Bewertung von Geschichte entscheidet sich nicht innerhalb von zwei Jahren«. »Man kann diese Zeit doch nicht einfach wegwerfen wie ein olles Taschentuch«, pflichtet ihr eine Passantin bei.
Ein Altkommunist aus West-Berlin erteilt derweil lautstarke Unterweisungen in den Qualitäten des Sozialismus und der DDR. »Hier gab es wenigstens Wohnungen und Arbeit für alle. Die Mauer war notwendig, um euch vor dem Kapitalismus zu schützen.« Auf die Frage, wieso er nicht rübergekommen sei, murmelt er, es lebten schließlich auch nicht alle Katholiken in Rom.
»Wir haben so lange mit Lenin gelebt, wir können das auch weiter tun,« sagt Lilo Küster, die extra aus Köpenick gekommen ist, um ihn noch einmal zu sehen. »Es wird nichts damit gelöst, wenn man ein Denkmal abreißt.« Sie findet die Idee gut, ihn mit Efeu bewachsen zu lassen. Drei Meter weiter brüllt jemand: »In die Luft jagen soll man den Dreck! Acht Löcher, zwei Stunden und er ist weg.« Im Thälmannpark sei doch auch noch eine Menge Platz für Lenin, beschwichtigt ein anderer.
»So viel Interesse und so viel Öffentlichkeit hat der Lenin noch nie gehabt«, meint ein Anwohner des jetzigen Platzes der Vereinten Nationen. Jetzt wird über seine Person und seine Lehre gestritten. Er sei vor allem Theoretiker gewesen. Daß seine Lehre so verhunzt wurde, sei schließlich nicht seine Schuld, meint eine Anwohnerin. Für eine andere dagegen steht er für die Machtansprüche des sozialistischen Staates. Schon die Monumentalität des Denkmals weise darauf hin.
»Die Ideale des Sozialismus sind es wert, daß man es noch einmal mit ihnen versucht«, sagt eine pensionierte Lehrerin. An diese Ideale habe sie auch einmal geglaubt, widerspricht eine Ärztin. Aber es habe sich gezeigt, daß die Menschen zu egoistisch seien.
Ein alter Mann mit Schirmmütze prophezeit: »Der leere Platz wird ein größeres Denkmal sein. Immer wird man sagen: Hier stand Lenin.« cor
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