piwik no script img

Giftwolken oder: Wie Mutti nicht stirbt

■ “Unter dem Glück“: Dagmar Papulas neues Stück bei shakespeare's

Fünf erwachsene Kinder kommen zum 70. Geburtstag von „Mutti“. Daß in der Nähe ein Flugzeug auf eine Plutoniumfabrik stürzt und sich eine Todeswolke bedrohlich nähert und „Mutti“ vor Schreck plötzlich stirbt, ist weniger dramatisch als das, was sich die Geschwister nun eröffnen oder unfreiwillig herausbringen. Erbärmlich und lächerlich ist das, der Stoff für die Komödie. Hinzuzudenken sind die fürchterlichen Wirkungen. Sie machen das Stück zur Tragikomödie, uraufgeführt am Mittwoch bei der shakespeare company am Leibnizplatz.

Die drei Frauen und zwei Männer sind Spezialisten für verschiedene Verdrängungsweisen. Die eine flieht in fremde Länder, die andere in die Familie und der nächste in die Karriere. Da wird im Dunkeln vom Vatermord geträumt und im Hellen „Vati“ und alles Getane gerechtfertigt: Das Leben soll heil, die Familie unbeschmutzt sein. Unter dem Glück liegt die Wahrheit und das Unglück der Einzelnen.

Das Stück beginnt durchaus witzig mit Telefonaten, die den Besuch bei „Mutti“ ankündigen. Aber die Situationskomik wird im späteren Verlauf häufig grobschlächtig. Die Figuren tragen dick auf. Dabei sind die verschiedenen Typen keineswegs einförmig, sondern in sich widersprüchlich und vielschichtig. Aber sie führen zu häufig im Munde, was die Bühnenfigur zu zeigen hätte. Es fehlen die Zwischentöne auch in der Sprache. Und es fehlt damit die poetische Dimension.

Vom Tod der Mutter und von der Todesdrohung einer heranziehenden Plutoniumwolke ins mütterliche Wohnzimmer gedrängt, verbringen die erwachsenen Kinder die Zeit mit Lügen und Klagen und der Beschwörung der toten Mutter, die keine Zuflucht mehr gewährt, aber auch kein Urteil mehr aussprechen kann.

Die Verwaisten versuchen das verlorene Glück durch alte Kinderspiele und Märchenformeln hervorzuzaubern. Der Sessel wird zum Floß der Medusa, auf dem sich die Geschwister angesichts ihres Untergangs zusammenkrallen, der Eßtisch zur Verschwörungshöhle und der hell erleuchtete Wohnraum zur Aufenthaltsstätte fünfmaliger Einsamkeit.

Die wechselnden Geschwisterkonstellationen bühnenwirksam gemacht zu haben, gehört zu den besonderen Leistungen der ostdeutschen Regisseurin Barbara Abend. Sie umschlingen und schlagen sich, ordnen sich immer wieder neu und finden jemanden, den sie ausschließen können. Immerhin agieren die Schauspieler fast zwei Stunden lang ohne Unterbrechung und ohne Wechsel des schlichten Bühnenbildes. Norbert Kentrup als quecksilbriger Dieter, Barbara Kratz als aufbegehrende Jüngste (Katie) heben sich als besonders prägnante Figuren heraus.

Nach der Entwarnung werden die geöffneten Schleusen, aus denen Träume, Ängste, Aggressionen und bislang verschwiegene Wahrheiten entwichen waren, wieder geschlossen: Die Familie versöhnt sich. Was unter dem Glück war, wird im Glück begraben. An dieser Stelle hätte das Stück, welches eine weitere Viertelstunde brauchte, um aufzuhören, durchaus schon zuende sein können. Peter Burmeister

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen