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Jelzin schickt Truppen gegen Tschetschenen

■ Trotz der Verkündigung des Ausnahmezustands Massenproteste in der Hauptstadt Grosnyj/ Für die Regierung Rußlands ist der Präsident der Tschetschenen- und Inguschen-Republik weiterhin ein Usurpator/ Wiederholen sich Gorbatschows Fehler?

Moskau/Grosnyj (taz/dpa) — In Grosnyj, der „Schrecklichen“, deren Namen noch Zeugnis ablegt von der zaristischen Eroberung des Nordkaukasus im 19. Jahrhundert, waren am Wochenende Zehntausende auf der Straße. Die Demonstranten, Bürger der Hauptstadt der nordostkaukasischen autonomen Republik der Tschetschenen und Inguschen, blockierten die Innenstadt und beachteten weder das Demonstrationsverbot noch die Sperrstunde, die beide im Rahmen einer Notstandsproklamation von Boris Jelzin ausgesprochen worden waren. Spezialeinheiten des russischen wie des noch-sowjetischen Innenministeriums griffen nicht ein.

Die 2.100 Soldaten, darunter ein Bataillon des Felix-Dserschynski- Elitedivision des Innenministeriums, waren mit dem ausdrücklichen Befehl nach Grosnyj geschickt worden, von der Waffe keinen Gebrauch zu machen. Ihnen standen die ersten Einheiten einer aus dem Boden gestampften Nationalgarde gegenüber, die sich damit begnügte, in die Luft zu schießen.

Mit der Verkündung des Ausnahmezustands ist der Verfassungskonflikt zwischen der russischen Föderation und der Tschetschenen-Republik in eine kritische Phase eingetreten. Die Regierung in Moskau erkennt die Wahl des ehemaligen Genrals Dschojar Dudajew zum Präsidenten nicht an, weil dieser zuvor im Namen eines „tschetschenischen Nationalkongresses“ das Parlament aufgelöst und mit einer Art kaltem Staatsstreich die Macht an sich gerissen hatte. Dudajew, ein praktizierender Moslem und Anhänger der staatlichen Unabhängigkeit der Tschetschenen-Republik, hat allerdings mittlerweile den Amtseid auf den Koran abgelegt, denkt also nicht daran, zurückzutreten. Er scheint sich einer weit größeren Unterstützung zu erfreuen als der durch die „200 bewaffneten Jungens“, die ihm der russische Parlaments-Vize Ruslan Chasbulatow, selbst gebürtiger Tschetschene, zugebilligt hatte.

Jelzins Dekret ist vom Parlamentspräsidium der russischen Föderation gebilligt worden und muß noch vom Parlament abgesegnet werden; es ist vorläufig bis zum 9. Dezember befristet. Der Stellvertreter des Präsidenten, Aleksandr Ruzkoi, war bemüht, das Dekret als einen Akt der Verteidigung des Rechtsstaats darzustellen und möglichen Bedenken wegen einer militärischen Eskalation des Konflikts vorzubeugen.

Tatsächlich bietet die russiche Regierung eine „konstruktive“ Lösung für die künftige Föderation an. Sie hat das Projekt einer neuen Verfassung vorgestellt, die an Stelle der jetzigen Gebiets und Republikgliederungen Länder setzen will, die sich zu den Vereinigten Staaten von Rußland zusammenschließen sollen. Die auch in den Kreisen der russischen Demokraten umstrittene Frage ist, ob diejenigen autonomen Republiken und Gebiete, die an dem neuen Bundesstaat nicht teilnehmen wollen, das Recht zum Austritt haben.

Gavril Popow, Bürgermeister von Moskau, ist unbedingt dieser Meinung. Auf dem Kongreß der Parteibewegung „Demokratisches Rußland“ beschwor er die Gefahr, daß sich die unentschiedene Zickzacklinie Gorbatschows in der Nationalitätenfrage auf der Ebene Rußlands wiederholen könne. Dudajew jedenfalls wird so leicht nicht zum Nachgeben gezwungen werden können. Das Verhältnis der Tschetschenen zu den Russen ist nach wie vor schwer durch die kollektive Zwangsdeportation des Jahres 1944 belastet. Und die Unabhängigkeitsbestrebungen der transkaukasischen Republiken wirken ansteckend. Christian Semler

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