: Inzest, Gott und Meuchelmord
„Hinterkaifeck“, heute um 22.45 Uhr im ZDF ■ Von Manfred Riepe
„Der Schlag hatte zuerst das aufgespannte Dach des Kinderwagens getroffen, dieses durchtrennt und dann den Schädel des Kindes zerschmettert. Der Schlag war mit solcher sinnlosen Wucht geführt, daß Blut und Gehirnteile über der Kopfseite des Wagens und am Bett klebten“, heißt es im amtlichen Polizeibericht über den Mord an den Mitgliedern der Familie Gruber. Sechs Menschen starben in der Nacht des 30. März 1922 auf dem Gutshof Hinterkaifeck durch die bestialische Hand eines nie gefaßten Täters.
Regisseur Kurt Hieber, ein Einheimischer aus der Gegend um Weidhofen, einem kleinen Dorf nahe des bayerischen Spargelstädtchens Schrobenhausen, bahnt einen Weg durch das Dickicht aus Vermutungen, Verleumdungen, Widersprüchen, Mythenbildung und makabrer polizeilicher Esoterik-Fahndung. Zur raschen Aufklärung des Verbrechens wurde damals zwar kein Wünschelrutengänger beauftragt, dafür aber die Opfer enthauptet. Mit Zustimmung des Staatsanwaltes wurden die Köpfe einem Hellseher anvertraut, der herausfand, daß zur Tatzeit Vollmond schien. Kopflos bestattete man unterdessen die Ermordeten.
Obwohl 100.000 Mark des reichen Bauern samt wertvollem Schmuck nicht entwendet wurden, beharrte die Polizei auf ihrer Raubmordthese. Noch im selben Jahr riß man den Hof ab und fand die Tatwaffe, nebenbei. Der Meuchelmord wurde zur Quelle reger Legendenbildung.
Ein aus heutiger Sicht unfreiwillig komischer Amateurfilm Mythos des Unheimlichen bestärkte die These von den unbekannten Landstreichern. 1951 erschien im 'Donaukurier‘ ein Fortsetzungsroman, der den im Krieg verschollenen Ehemann der ermordeten Gruber-Tochter Victoria, Karl Gabriel, als Täter auserkor.
Die Anwohner wußten jedoch besser, was auf Gut Hinterkaifeck vor sich ging. Schon 1919 wurde das 63jährige Familienoberhaupt Andreas Gruber zu einem Jahr Gefängnis wegen Blutschande verurteilt. Seit der Ehemann der 35jährigen Victoria Gruber nicht aus dem Krieg heimgekehrt war, unterhielt der Alte eine gottlose Beziehung zu seiner Tochter.
Eine Schlüsselfigur ist der 1941 verstorbene Schlittenbauer Lorenz, dessen Liebesbeziehung zu Victoria Gruber der Trieb des Alten im Wege stand: „Mei Tochter braucht keinen Mann mehr, dafür bin i doa“, tönte der potente Patriarch zeitlebens blasphemisch. „Des woara Liebesmord“, sagt eine inzwischen neunzigjährige Frau aus Gröbern. Genaueres weiß niemand, will niemand sagen.
Gerüchten zufolge soll Schlittenbauer zu jedem Jahrestag des Massakers durchgedreht sein. Nachgewiesen wurde ihm nie etwas. Ebensowenig wie den über hundert Verdächtigen, die die Polizei im Visier hatte. Der wahnsinnige Bäckermeister, der wilde Metzger, der französische Fremdenlegionär — alle Spuren erwiesen sich als Ergebnis gegenseitiger Verleumdung.
Die gleichermaßen der Vertuschung dienlichen Ermittlungen scheiterten am erbitterten Widerstand, den die ebenso zerstrittenen wie unter dem Mantel des Schweigens vereinten Anwohner über das bis heute rätselhafte Verbrechen ausbreiteten. Unwillkürlich fühlt man sich an Agatha Christies Kollektiv- Mord im Orientexpreß erinnert.
Mit akribischen Recherchen, Zeitzeugen-Befragungen und spitzen Kommentaren hat Kurt Hieber, zum Teil gegen den Widerstand der Bevölkerung, ein spannendes Soziogramm über die „Jagdszenen aus Oberbayern“ erstellt. Übersteigerte Frömmigkeit ist ein bestimmender Faktor auf einem Landstrich, der auch heute noch zur urbanen Randzone zählt.
„Wo die Kirche noch so stark ist“, sagt der Regisseur, „bekommen ungeklärte Morde eine religiös-mystische Komponente.“ Die unausgesprochene Vermutung, daß Glaube nicht nur Berge, sondern auch Menschen ins Jenseits versetzt, drängt sich auf.
„Der Herrgott hatte damals seine Hand schon am richtigen Platz“, befand jedenfalls der Hauptverdächtige Schlittenbauer bis zu seinem Tod.
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