GASTKOMMENTAR
: Trauerarbeit
■ Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist in der Welt ohne Beispiel
Unfähig zu trauern seien die Deutschen, konstatierten vor mehr als zwanzig Jahren die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrer berühmten Untersuchung über die Verdrängung und Beschönigung des Nationalsozialismus. Mit der für Donnerstag vorgesehenen Verabschiedung des Stasi-Unterlagen- Gesetzes (StUG) stellt der Deutsche Bundestag unter Beweis, daß dieses vernichtende Urteil so nicht mehr gilt. Erstmals wird für ein zentrales Stück deutscher Diktaturgeschichte politische Aufarbeitung und individuelle Trauerarbeit möglich. Die „Schlußstrich-Fraktion“, die eine Flut von juristisch, politisch oder christlich begründeten Einwänden gegen eine Öffnung der Stasi-Archive vorbrachte, hat sich nicht durchgesetzt.
In der Welt ist das Gesetz ohne Beispiel. Zum ersten Mal werden die Archive eines Geheimdienstes Opfern, Journalisten und Wissenschaftlern zugänglich gemacht. Zu verdanken ist das Gesetz in erster Linie dem Druck der Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR — und dem noch zu DDR-Zeiten gewählten Sonderbeauftragten Joachim Gauck, der unermüdlich den zermürbenden Kampf mit den Bonner Machtinstanzen führte. Seine vielfach mit Unverständnis betrachtete Strategie, sich strikt an die Festlegungen des Einigungsvertrages zu halten, ist schließlich aufgegangen. Das Gesetz könnte die politische Landschaft schon in Kürze in ungeahnte Turbulenzen bringen. Der Fall des früheren Grünen-Abgeordneten Dirk Schneider hat gezeigt, wie tief die Stasi mit ihren Mitarbeitern auch in das politische System Westdeutschlands vorgedrungen ist. Wenn es stimmt, daß das MfS allein in Niedersachsen 5.000 Inoffizielle Mitarbeiter geführt hat, kann man sich schon jetzt auf manche Überraschung gefaßt machen.
Wichtig ist nun, daß die neugeschaffenen Spielräume schnell und breit genutzt werden. Die Öffentlichkeit hat das Recht darauf, zu erfahren, wieweit das politische Establishment, die Kirchen, die Gewerkschaften, der Schriftstellerverband — und auch die taz — vom MfS bespitzelt oder gesteuert wurden. Nachdem die Aufarbeitung um bald zwei Jahre verzögert wurde, steht die Gauck-Behörde jetzt auf dem Prüfstand und muß bald erste Ergebnisse vorlegen. Wer es bislang noch nicht getan hat, sollte deshalb umgehend seinen Antrag auf Akteneinsicht auf den Weg bringen — für sich selbst, oder für themenbezogene Projekte. Hubertus Knabe
Der Autor lebt als DDR-Forscher und Publizist in Berlin