Kaufleuten geht nach und nach die Puste aus

■ In der Neuköllner Anzengruberstraße mußte in den letzten Monaten jeder fünfte Laden wegen drastisch gestiegener Gewerbemieten schließen/ Möbelhändler gab nach 71 Jahren auf/ Auf Pappschildern danken sie ihren »treuen Kunden«

Neukölln. Vor zwei Wochen ging mein Gemüsehändler. Wo bis dahin noch eine bunte Obstauslage zum Kauf einlud, ziert jetzt einzig ein gelbes Pappschild im Fenster die gähnende Leere des Ladens: »Nun hat es auch uns erwischt. Wegen einer drastischen Mieterhöhung sind wir zur Geschäftsaufgabe gezwungen. Wir danken unseren treuen Kunden.« Das gleiche Schild bietet das Wollgeschäft nebenan. Hier ist die Miete vervierfacht worden. Die Besitzerin mußte ebenfalls aufgeben. Vorangegangen waren ihnen der Friseurladen, das Möbelgeschäft, die Reinigung und der Zeitungskiosk. Der Geschenkartikelladen wird ihnen Ende Februar folgen. Von den 34 Einzelhandelsgeschäften der Anzengruberstraße in der Nähe der Karl- Marx-Straße sind in den letzen Monaten somit sieben Läden, also jedes fünfte Geschäft, durch drastische Mieterhöhungen oder die Weigerung der Hausbesitzer, bestehende Mietverträge zu verlängern, kaputtgemacht worden. Die anderen Geschäftsleute berechnen die Dauer ihrer Geschäftsexistenz bereits nach den Jahren, die ihnen ihr Mietvertrag noch zugesteht.

Die Blumenfrau wird nach dieser Rechnung wohl noch anderthalb Jahre bleiben können, dann, so erwartet sie, werde sie den Laden wohl aufgeben müssen. Eigentlich hätte sie gerne einen Lehrling eingestellt, traut sich dies aber nicht mehr. »Ich kann den doch nicht mitten in der Lehre auf die Straße setzen«, sagt sie. Vor vier Jahren hatte sie das Geschäft übernommen, hatte tapfer die ersten harten Jahre durchgehalten. Mittlerweile ist sie resigniert: »Wenn ich das vorher gewußt hätte, hätte ich mich nie selbständig gemacht.«

Der Bäcker gibt sich noch vier Jahre mit der schwachen Hoffnung, dann eine Verlängerung des Vertrages zu bezahlbaren Konditionen erwirken zu können. Für meinen Gemüsehändler war die Miete nicht mehr bezahlbar. Er sollte plötzlich, statt wie bisher 1.100 Mark, 2.500 Mark für seine 24 Quadratmeter Verkaufsraum plus 24 Quadratmeter Lagerraum bezahlen. Bei einem durchschnittlichen monatlichen Reingewinn von 2.500 Mark konnte er die Mieterhöhung um 1.400 Mark nicht verkraften. »Für 1.100 Mark Reingewinn stehe ich nicht mehr morgens um zwei Uhr auf, um zum Fruchthof zu fahren«, sagt er. Noch hat er ein weiteres Geschäft in Neukölln. Aber auch dort sieht er schon die Mieterhöhung winken.

Der Versuch, neue Geschäftsräume zu finden, gestaltet sich für die meisten Gewerbetreibenden äußerst schwierig, zumal sich eine neue dubiose Vermietungspraxis breitzumachen scheint. InteressentInnen, die nach einer Besichtigung und vielversprechenden Gesprächen mit dem Vermieter bereits glauben, Räume gefunden zu haben, erhalten kurz vor dem geplanten Vertragsabschluß einen Anruf, daß die Miete nun doch einige hundert Mark höher sei als zuvor vereinbart. Die ehemalige Besitzerin der Wollboutique durfte diese Erfahrung in den letzten beiden Monaten gleich zweimal machen, und auch die anderen Geschäftsleute wissen ein Lied von dieser Erpressungstaktik zu singen.

Vergleichsweise Glück im Unglück hatte die Inhaberin des Wäschegeschäfts in der Anzengruberstraße. Nach langen, zähen Verhandlungen gelang es ihr, den bestehenden Vertrag um weitere fünf Jahre zu verlängern. Einen Wermutstropfen hatte die Vereinbarung für sie jedoch. Für die verbleibenden zwei Jahre des alten Vertrages muß sie bereits die neue, deutlich höhere Miete bezahlen.

Auch das Möbelhändlerehepaar hat vorerst eine Notlösung gefunden. Statt des alten, recht geräumigen Verkaufsraumes, dessen Mietvertrag sie nach 71jährigem Bestehen nicht verlängern konnten, haben sie einen winzig kleinen Verkaufsraum ein paar Häuser weiter anmieten können. Ihr alter Laden soll für 12.000 Mark weitervermietet werden. Die Geschäftsleute munkeln, daß in den Laden eine Peep-Show einziehen wird. In den Gemüseladen kommt übrigens ein Geschäft für Gefrierfleisch. Meine Straße wird also unaufhaltsam attraktiver. Sonja Schock