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INTERVIEW„Eine politische Bankrotterklärung“

■ Michael Baumgart, Leiter des Hamburger Umweltinstituts e.V., über die neuen Dioxinempfehlungen

taz: Wie sind die empfohlenen höheren Richtwerte aus wissenschaftlicher Sicht zu bewerten?

Michael Braungart: Dioxin kann nicht abgebaut werden. Aber die verantwortlichen Politiker stopfen die Quellen nicht. Wenn man aber die Produktion nicht stoppen will, muß man eben die Richtwerte für die Bodenbelastung erhöhen.

Weil man die Industrieanlagen nicht dichtmachen will, muß man die Grenzwerte erhöhen?

Die Bundesrepublik ist das Land, das weltweit am meisten PVC produziert. Ein Land mit einer ungeheuren Dichte an Chlorchemie. PVC wird zum Beispiel als Unterbodenschutz für Autos verwendet. Das sind allein beim VW Golf 11 Kilo PVC. Wenn man dies nicht stoppen will, muß man entweder die kontaminierten Flächen stillegen oder die Richtwerte höher setzen, als dies toxikologisch zu rechtfertigen ist.

Erst im vergangenen Jahr haben Umweltbundesamt und Bundesgesundheitsamt die niedrigeren Richtwerte veröffentlicht.

Die Richtwerte sind damals zunächst nach toxikologischen Kriterien festgelegt worden. Das war auch berechtigt, denn was wir heute an Dioxin aufnehmen, liegt deutlich über dem, was das Bundesgesundheitsamt eigentlich noch für tolerabel hält. Für Säuglinge ist die Belastung teilweise 200mal höher als für Erwachsene noch als tolerabel angesehen wird. Inzwischen hat man flächendeckend vor allem im Ruhrgebiet, aber auch in anderen Bundesländern Dioxinwerte im Boden untersucht und hat festgestellt, daß man in erheblichem Maße Flächen stillegen müßte, wenn man die niedrigen Richtwerte beibehält. Bei den flächendeckenden Dioxinuntersuchungen sind die Behörden sehr erschrocken, vor allem im Ruhrgebiet, in Hamburg und in der Umgebung von Berlin — erst recht in den neuen Bundesländern.

Wieviel Fläche müßte gesperrt werden, wenn man beim Richtwert von 5 Nanogramm sperren würde?

Dioxin kann nicht abgebaut werden. Man muß also damit rechnen, daß dieser niedrigere Richtwert früher oder später überall erreicht würde. Es wäre nur eine Frage der Zeit, wann man im Prinzip das Industrieland Bundesrepublik für landwirtschaftlichen Anbau sperren müßte. Im Moment gehen wir davon aus, daß man in NRW ein Viertel der landwirtschaftlich genutzten Fläche aufgrund der Dioxinbelastung unter toxikologischen Gesichtspunkten sperren müßte.

Das Umweltbundesamt argumentiert, dieser Richtwert könne durchaus nach oben gesetzt werden, wenn man den Bauern empfielt, das Land auf eine bestimmte Art zu bearbeiten.

Vom Schreibtisch im Umweltbundesamt mag das entsprechend aussehen. Es gibt ja auch Empfehlungen für die Umgebung von Bleihütten. In Nordenhamm z.B. durften Kühe nur dann auf die Weide, wenn es gerade nicht regnete. Übertragen auf Dioxin, müßte an jedem Feld eine kleine Klimastation stehen. Die Dioxinverfügbarkeit hängt nämlich unter anderem ab von der Temperatur, von der Luftfeuchtigkeit und der Windgeschwindigkeit. Solche Empfehlungen sind genauso absurd wie Verhaltensmaßregeln für kleine Kinder auf Spielplätzen. Man könnte ihnen ja die Hände auf den Rücken fesseln, damit sie auf dem Boden kein Dioxin aufnehmen. Das ist eine realitätsferne Betrachtungsweise.

Wie kommen die 100mal niedrigeren Grenzwerte in den USA zustande?

Die erheblich niedrigeren Werte sind das Resultat der Frage, wie schädlich ist Dioxin. In welchen Konzentrationen verursacht es Schädigungen im Immunsystem. Wie sieht es mit Embryoschäden und dem Krebspotential der Chemikalie aus? Dann kommt man toxikologisch begründet zu wesentlich niedrigeren Grenzwerten. Was in der Bundesrepublik erstellt wird, sind eher Richtwerte, die von der Solvay, von Hoechst, Hüls oder Dow Chemical diktiert werden. Die Richtwerte jetzt zu erhöhen ist sozusagen eine politische Bankrotterklärung. Interview: H.J. Tenhagen

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