Alles valsch

Pilatus' Tagebücher: Ein religiöser Paradigmenwechsel  ■ Claus Christian von Malzahn

Die meisten Sachen kommen raus, entweder früher oder später. Wir wissen heute, daß die Erde eine Kugel ist, wir haben Indizien dafür, daß Christoph Columbus als gläubiger Jude nicht Indien, sondern das gelobte Land gesucht hat; wir ahnten schon seit längerem, daß das diesseitige Paradiesversprechen der Kommunisten Lug und Trug war, und können mit Band 29 der Uderzo-Goscinny-Werke endlich den Beweis dafür antreten, daß es sich bei Asterix und Obelix neben Batman und Robin um das zweite schwule Heldenpaar der Comic-Geschichte handelt. Erst jetzt aber, im Jahre 1991 nach Christi Geburt, fällt die wahre Frucht der Erkenntnis endlich vom Baum: Wir dürfen freitags wieder Fleisch essen, weil Jesus kein Schmerzensmann, sondern ein Säufer war.

Diese und weitere sensationelle religionswissenschaftliche Erkenntnisse verdanken wir dem New Yorker Korrespondenten unserer Bruderzeitung, dem FAZ-Journalisten Jörg von Uthmann. Der gelernte Diplomat ist in der glücklichen Lage, die Wurzeln seines Familienstammbaums bis in das vergangene Jahrtausend hinein verfolgen zu können. Der Stammvater seiner Sippschaft war denn auch kein Geringerer als der Kalif Uthmann ibn Affan, Schwiegersohn von Mohammed dem Propheten und Verfasser von dessen Memoiren, dem Koran. Religiöser Eifer trieb den Sarazenen an, alle greifbaren heidnischen Schriften konfiszieren zu lassen. Darunter befanden sich auch etliche Briefe von und an Pontius Pilatus. Über 1.300 Jahre lang ruhte die brisante Korrespondenz in einer roten Familienschatulle, sämtliche Versuche, den literarischen Schatz zu bergen, schlugen fehl oder wurden vermasselt. Nun hat es endlich ein Uthmann gewagt, der Verlag Hoffmann und Campe war ihm behilflich. Und es war alles ganz, ganz anders.

Jesus Christus war der uneheliche Sohn eines nicht näher bekannten römischen Bogenschützen. Maria gebar noch viele andere Kinder; eines von ihnen, Jacobus mit Namen, gründete später die christliche Kirche. Der Messias wurde nie gekreuzigt, sondern im April des Jahres 33 wegen Aufwiegelei von Pilatus nach Syrien verbannt.An seiner Statt mußten die Jünger Judas Iskariot und Simon der Zelot dran glauben. Beide wurden nach der Tempelreinigung gekreuzigt. Judas und Simon könnte man getrost als militante Autonome der ersten Stunde bezeichnen, Jesus wurde wegen seiner wirren ökopazifistischen Äußerungen von Pilatus dagegen nicht ernst genommen. „Im Grunde unpolitisch“ befand der Römer und stellte ihn in Damaskus unter Hausarrest.

Doch nicht nur die Auferstehungsgeschichte wird durch diese einzigartigen zeitgenössischen Dokumente widerlegt. Sein oft vermutetes Verhältnis mit der Prostituierten Maria Magdalena wird auch von Pilatus erwähnt, die Wunderheilungen Jesu werden dagegen von einem medizinischen Sachverständigen aus Ägypten teilweise bestätigt. Die Verwandlung von Wasser in Wein ist dem selbsternannten Sohn Gottes aber nie geglückt. Jesus handelte hier offenbar nicht in göttlichem Auftrag, sondern aus sehr egoistischen Motiven: „Siehe wie ist der Mensch ein Fresser und Weinsäufer!“ schildert der Apostel Mätthaus den Ruf seines Anführers.

Von Uthmann hat die Briefe selbst übersetzt, annotiert und eingeleitet. Über bereits vorgekommene Fälschungen relevanter religionsgeschichtlicher Texte beunruhigt, nahm er die Sache selbst in die Hand, um die Authentizität der Briefe zu garantieren. Das Kreuz, das von Uthmann mit der Veröffentlichung auf sich nahm, spürt man bei seinen einleitenden Worten. „Nicht ohne Beklemmung“ lege er die Korrespondenz vor, da sie geeignet seien, den Religionsfrieden zu stören. Doch es sei besser, Anstoß zu erregen, als die Wahrheit zu unterdrücken. Mit diesem Satz zitiert er keinen Geringeren als den Heiligen Vater Gregor den Neunten. Im Klappentext, der übrigens fast wortgleich als Rezension im Feuilleton der FAZ erschien, werden geneigte Leser gewarnt: Wer seinen Kinderglauben bewahren wolle, der solle die Lektüre des Buches besser an sich vorüberziehen lassen.

Jesus wird im Briefwechsel des Pilatus mit Kaiser Teberius und anderen römischen Honoratioren zwar oft erwähnt, die Hauptrolle spielt er aber nicht. Den religiösen Paradigmenwechsel hat Pilatus nicht bemerkt, zu sehr waren er und seinesgleichen mit politischen Intrigen in Rom, mit Mord und Suizid, mit Sex und laxem Lebenswandel beschäftigt. Detailfreudig werden Delikatessen (Flamingozungen mit Honig, gemästete Haselmäuse) beschrieben, und ganz nebenbei erfahren wir, daß die Römer schon Fußball gespielt und Kaffee getrunken haben. Selbst eine Art „Feinkost Käfer“ gab es im alten Rom.

Geradezu atemberaubend ist der Briefwechsel zwischen Pontius Pilatus und Salome, der Stieftochter des jüdischen Königs Herodes. Salome wird in der Bibel für die Enthauptung von Johannes dem Täufer verantwortlich gemacht. Schon zu Lebzeiten verwahrte sie sich gegen dieses Gerücht. Sie könne gar nicht tanzen, beteuert sie in einem Brief an den römischen Praefectus, mit dem sie eine heftige Sado-Maso-Beziehung in wechselnden Rollen unterhielt. Ihre Ungeschicktheit müsse er nach dem gemeinsam in Alexandrina besuchten Konzert der Musikgruppe Lapides Provolentes doch bestätigen können, schreibt sie an ihren römischen Geliebten. Die Übersetzung des Namens dieser Gruppe liefert von Uthmann in einer seiner massenhaften Fußnoten, die schärfsten Stellen beläßt der Protestant aber in lateinischer Sprache. Wir wollen hier nicht vorgreifen.

Verblüffend sind auch die Ähnlichkeiten zwischen heutigen Protestbewegungen und damaliger antirömischer Opposition. Die Anhänger von Johannes dem Täufer lebten wie Hippies und agierten wie Basisgruppen der bundesdeutschen Friedensbewegung. O-Ton Pilatus: „Sie ernähren sich von Heuschrecken und Kräutern und weigern sich, durch Aquädukte geleitetes Wasser zu trinken. Auch den Straßenbau lehnen sie als Notzucht an der Mutter Erde ab.“

Trotz kleiner Schönheitsfehler — manchmal übersetzt von Uthmann reichlich flott — ist die religionsphilosophische Bedeutung dieser Texte kaum zu überschätzen. Sein Mut, den Briefwechsel zu veröffentlichen, ist von echtem Erkenntnisinteresse geleitet, bei der letzten Seite angelangt, fühlt man sich religiös restlos aufgeklärt. Ein gewisses Bedauern bleibt jedoch: 2.000 Jahre Christentum hinterlassen nach der Endabrechnung zumindest ein sentimentales Gefühl. Die Bibel, wir ahnten es, ist ein riesiger Fake. Mundus vult decipi, ergo decipamus heißt es im Brief des Memmius Regius an Pontius Pilatus. Aber die meisten Sachen kommen raus, früher oder später.

Pontius Pilatus. Briefwechsel. Übersetzt, annotiert und eingeleitet von Jörg von Uthmann. Verlag

Hoffmann und Campe, 144 Seiten, 28 DM.