Deregulierung nach Versandhaus-Prinzip

Gestärkt durch die Wahlen bietet Präsident Menem die argentinischen Staatsbetriebe zum Verkauf an  ■ Aus Buenos Aires Gaby Weber

Zur Zeit gleichen die argentinischen Tageszeitungen einem Versandhauskatalog. Das breite Angebot ist günstig; auch an Filetstücken wird nicht gespart. Seitdem Präsident Carlos Menem vergangene Woche per Dekret weitere Privatisierungen angeordnet hatte, werden täglich auf mehreren Seiten die verschiedensten Staatsbetriebe feilgeboten. Zum Ende nächsten Jahres, haben sich die Konservativen vorgenommen, soll die leidende Wirtschaft Argentiniens von allen bürokratischen und korporativistischen Fesseln befreit werden.

Um dem unbehinderten Wettbewerb zum Durchbruch zu verhelfen, gehen die Staatsschätze in private Hände über: Kraftwerke, Gasvorkommen, Wasserwerke, U-Bahnen, Eisenbahnen, Schiffahrtslinien und Ölfelder werden verschachert; unter staatlicher Regie bleiben lediglich die Polizei und der Schuldenberg, der sich auf rund 61 Milliarden Dollar oder 80 Prozent des Bruttosozialprodukts beläuft. Selbst die Streitkräfte müssen Federn lassen; der gesamte militärisch-industrielle Komplex gerät unter den Hammer.

Bereits Anfang des Monats hatte die peronistische Regierung die Ladenschlußgesetze gestrichen, die Kontrollämter für Fleisch, Getreide und Zucker aufgelöst und die Gebührenverordnung für freie Berufe abgeschafft. In Zukunft werden Anwalts- und Notarsgebühren, aber auch Tarifabschlüsse frei verhandelt.

Nur durch die Abschaffung der Monopole, hatte die Regierung begründet, könnten die „Marktkräfte von den staatlichen Fesseln befreit“ werden. Menem kündigte gar eine „Produktivitätsexplosion“ an. Zwar fließt durch die Deregulierung Kapital ins Land und die Börse feiert neue Rekorde, doch für Optimismus, so die Opposition, bestehe kein Anlaß. Das staatliche Monopol werde lediglich in ein Privates verwandelt, sagen die Kritiker. Die Luftverkehrs- und die Telefongesellschaft, von der Liberalisierung ausgenommen und vor kurzem an ausländische Firmen veräußert, bleiben weiter ohne Konkurrenz; das Angebot wurde seitdem nicht besser, dafür aber erheblich teurer.

Am verlockendsten sind ohne Zweifel die Erdöl- und Gasvorkommen in Patagonien. Den Kaufpreis, die Schmiergelder inbegriffen, werden nur multinationale Unternehmen wie Shell, Texaco oder Standard Oil aufbringen können — freier Wettbewerb wird sich dadurch kaum entfalten. Auf Straßen und Flüssen soll künftig eine Mautgebühr erhoben werden — eine Maßnahme aus dem Mittelalter.

Derzeit kann sich die Börse in Buenos Aires kaum vor ausländischem Kapital retten. Täglich werden dort 40 Millionen Dollar angelegt. Gerade für europäische Anleger ist Argentinien plötzlich lukrativ geworden, sind doch die Möglichkeiten in Osteuropa ungewiß. Monatlich wird der Einsatz verdoppelt. Doch der Boom findet nur auf dem Papier statt. Die Devise lautet: Spekulation statt Produktion. Während im letzten Jahr noch 7,7 Prozent des Bruttosozialprodukts investiert wurden, werden es dieses Jahr trotz des überwältigenden Kapitalflusses maximal 6,6 Prozent sein. Die Tendenz zeigt weiter nach unten. Die argentinische Industrie produziert immer weniger; die Handelsbilanz ist von 8 Milliarden Dollar im Jahre 1990 auf die Hälfte abgesackt.

Dem frischen Zustrom harter Devisen ist es zu verdanken, daß die argentinische Zentralbank den Wechselkurs künstlich aufrecht erhalten kann. Der Austral, wie die Scheine mit den vielen Nullen heißen, ist weit überbewertet, doch kann auf diese Weise die Inflation in Grenzen gehalten werden. Die Geldentwertung, die 1990 noch über 1300 Prozent betrug, konnte auf wenige Prozentpunkte gedrosselt werden. Doch spätestens wenn der ausländische Kapitalstrom verebbt, wird die Landeswährung abgewertet — und umgehend in Form von Preissteigerungen an die Konsumenten weitergegeben. Die Ausgaben der öffentlichen Hand und die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen wurden in den letzten Monaten mit den Verkaufserlösen der Staatsbetriebe finanziert. Wenn alles ausverkauft ist, wird der Zentralbank nichts anderes übrigbleiben, als wieder neue Geldscheine zu drucken.

Schließlich droht am Horizont noch ein weiteres Problem: Bei den Privatisierungen wurde den ausländischen Käufern eine ungehinderte Gewinnrückführung in harter Währung garantiert. Diese Devisen muß die Zentralbank in Buenos Aires demnächst aus dem Hut zaubern.

Die geringe Inflation hatte den Peronisten bei den letzten Kommunalwahlen überwältigende Siege beschert. Laut Meinungsumfragen ist die Mehrheit der Bevölkerung mit Menems Wirtschaftspolitik hoch zufrieden. Es ist mehr als verständlich, daß niemand für den Status quo auf die Barrikaden steigen will, wo doch die Staatsbetriebe mit Unfähigkeit, Vetternwirtschaft und Korruption gleichgesetzt werden. Alternative Modelle, wie diese Betriebe verbraucherfreundlich geführt werden könnten, haben weder die Gewerkschaften noch die Opposition vorgelegt. Im Parlament wurde nur kritisiert, daß der Präsident per Dekret und nicht mit Gesetzen regiert.

Im Kongreß war die peronistische Initiative, ohne Debatte aus dem Dekret ein Gesetz zu machen, abgelehnt worden. Stattdessen wurde über einen Vorschlag debattiert, wonach künftig alle Parteien auf ihren Listen mindestens ein Drittel weibliche Kandidatinnen führen müssen. Wesentliche Punkte des Dekrets wären im Parlament, so hatte Justizminister Len Arslanian begründet, als Gesetz ohnehin „am Widerstand der Lobbies gescheitert“.

Dennoch kennt Menem keine Legitimitätsprobleme: „Wenn mich 86 Prozent der Bevölkerung unterstützen, ziehe ich es lieber vor, totalitär zu sein, als demokratisch mit zehn Prozent“.