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Jonas redet Tacheles im gestrandeten Wal

■ Das schönste Haus in Berlin ist das »Kunst- und Kulturzentrum Tacheles«/ Im Widerspruch zwischen innen und außen klappt der Wal das Maul auf und zu/ Wo kommen die 30 Millionen für den Ausbau des »Tacheles« her?

Auf dem Strand unter dem Pflaster der Oranienburger Straße liegt ein riesiger Wal. Wuchtig wölben sich seine Rippenbögen, sein geöffneter Bauch, sein Inneres scheint nach außen gekehrt. Die Geschichte hat ihn dort angespült, und Jonas und seine Mitstreiter, die ihm aus dem Maul krochen, haben ihn Tacheles gelehrt.

So könnte jemand die Historie vom »Kunst- und Kulturzentrum Tacheles« zu erzählen beginnen, jemand, der oder die sich gerade »Auf den Spuren des gestrandeten Wals« rund um die Geschichte des »Tacheles« bewegt hat und nun die gleichnamige — sehenswerte!— Ausstellung im Martin-Gropius-Bau verläßt. Dieses walförmige Urviech, diese atmende Ruine aus Schutt und Asche und zerbrochenen Stahlrippen, sie gehörte einst zum ersten Stahlbetonskelettgebäude Europas. Der Stahlbeton umschloß ein gigantisches Passagenkaufhaus zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße, in dem das Publikum seit 1908 durch Torbögen und Kuppelräume, Rote und Blaue Verkaufssäle, glasüberdeckte Passagen und Teppichsäle und allein zehn Treppenhäuser strömte.

Der Stahl hielt zusammen, was eigentlich nicht zusammengehörte: draußen die Fassade voller neoklassizistischer Wucht und monumentalem Kaiser-Klimbim, drinnen schon die Sachlichkeit der rasenden neuen Zeit. Außen und innen — ein Thema, über das auch heute noch viel Tacheles zu reden ist.

Auch Jochen Sandig weiß darüber wie Jonas aus dem Inneren des Wals zu berichten. Mit sanfter Stimme erläutert der im Tacheles-Büro für Öffentlichkeitsarbeit zuständige schwarzhaarige Halb-Schwabe, daß das an die früher hier ansässigen Juden erinnernde jiddische Wort Tacheles nicht nur »Klartext« bedeutet, sondern auch »offene Rede«. Ein offenes Haus habe man von Anfang an, seit der Besetzung im Februar 1990, sein wollen: offen für Experimente aller Art, offen in Richtung Osten und Westen, offen für Inländer und Ausländer.

Von den rund hundert Künstlern und Kunstinteressierten, die sich seitdem hier engagierten, stammen etwa 30 aus dem Westen, 30 aus dem Osten und 40 aus dem Ausland. »Unser Ruf ist inzwischen so international, daß die Künstler von selbst zu uns kommen«, erläutert der moderne Jonas lächelnd im Schein eines Gasöfchens, das die Malerei auf der Hinterwand des Büros noch wilder aufzucken läßt.

Doch so aufgeschlossen sich die Tacheles-Leute gegenüber der ganzen Welt geben möchten — ein in Jochen Sandigs Hand klimpernder Schlüsselbund zeigt, daß sie nach diversen Diebstählen Kompromisse mit der Realität eingehen mußten. Die Türen zur Underground-Disco im Keller, zur Kneipe im Erdgeschoß, zum rot-schwarz-braun-blätternden Theatersaal mit der historischen Rosette an der Decke, zum »Blauen Salon« mit seiner blauen Spielfläche unter dem Himmel, zu den Galerieetagen und Holz- und Grafik- und Siebdruck-Werkstätten bleiben unangemeldeten Besuchern verschlossen.

Von außen, von der Friedrichstraße aus gesehen, erscheint das Gebäude zwar immer noch wie ein ungeschütztes Traumgebilde oder eine gigantische Puppenstube, in der die Utopie freien menschlichen Wirkens vorgespielt wird: Die vor öffentlichen Blicken schützenden Vorderwände der einzelnen Zimmer fehlen, sie gingen mit dem Abriß des Friedrichstraßenflügels verloren, und aus dem Dach sprießen Bäume. Aber die inneren Räume erschließen sich nun nicht mehr jedem. So manches Detail, die milde Morbidität der abblätternden Farben und bröselnden Torbögen, die Zärtlichkeit, mit der die kaputteste Ecke noch mit einem Gemälde bedacht wird, blüht im Verborgenen.

Und doch sind es gerade auch diese Kleinigkeiten, in denen mit dem historischen Material des Hauses gespielt wird — eine Drahtskulptur als Tür, eine Menschenfigur aus Schrott —, die das »Tacheles« zum schönsten, lebendigsten, wildesten Haus von Berlin machen.

Das war beileibe nicht immer so. In der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau wird uns auf Schautafeln erzählt, wie schnell die Einzelhändler, die die »Friedrichstadt-Passage« im Kampf gegen die großen Warenhäuser finanziert hatten, durch die Wirtschaftskrise zugrundegerichtet wurden. 1928 übernahm die AEG das Gebäude und baute es als »Haus der Technik« zu einer Schaufläche für das »Elektropolis« Berlin um. Der Konzern störte sich nicht an den Nazis, die hier wenig später das Organisationsbüro der »Deutschen Arbeitsfront« und die SS-Dienststelle Zentralbodenamt unterbrachten und ab 1943 französische Kriegsgefangene im Dachgeschoß schuften ließen. Bei Kriegsende durch Bomben schwer beschädigt, zerfiel und verrottete das »Haus der Technik« trotz zeitweiliger Nutzung immer mehr, bis denn schließlich der erste Gebäudeteil abgerissen wurde und Anfang 1990 der Rest folgen sollte.

Auch Jonas alias Jochen Sandig kennt die Geschichte des Gebäudes en detail. Er hat nicht nur bei der Ausstellung mitgewirkt, sondern auch schon bei der Besetzung, mit der die tumben Sprengungspläne der damaligen DDR-Behörden gestoppt wurden. Schon nach wenigen Wochen erblühte in den Gemächern die Kunst, genauer gesagt jene wilden und genügsamen Sorten, die auch ohne Wasser und Strom zu wachsen vermögen. Aufgestanden aus Ruinen hieß denn auch die erste Multimedia- Show, und im Oktober 1990 stand die Ruine denn endlich unter Denkmalschutz. Zwei Stadträte vom Bündnis 90, Dorothee Dubrau und Uwe Dähn, besorgten dem Verein »Tacheles e.V.« die ersten öffentlichen Mittel: eine Million Mark, mit der Dach und Fenster winterfest gemacht wurden.

Und die Zukunft? Ist die offen? Was hat Jonas aus dem Inneren des Wals zu berichten, wenn er aus dem Maul nach außen schaut? Nach knapp zwei Jahren fast ausschließlich ehrenamtlicher Arbeit, sagt er, zeichne sich nun auch am finanziellen Horizont ein Silberlingsstreif ab. Sieben ABM-Stellen waren dem Projekt bisher via Sanierungsträger SPI bewilligt worden, im neuen Jahr sollen es über eine vom Verein Tacheles e.V. getragene Beschäftigungsgesellschaft sogar 45 werden. Die Ausländer, die nicht ABM-berechtigt sind, erzählt Vereinsvorständler Jochen Sandig, sollen dabei über einen freiwilligen Solidarbetrag der deutschen Beschäftigten mitentlohnt werden. Über derlei Dinge werde selbstverständlich basisdemokratisch geredet und entschieden, in den jeweiligen Untergruppen wie im Projektbereich Theater oder im Cafeteam, oder auf dem zweiwöchigen Plenum. »Für die meisten ist das hier das erste Alternativprojekt, in dem sie sich engagieren«, fügt er hinzu, »und das erklärt wohl schon einen gewissen Elan.«

Einen Moment lang schaut er nachdenklich hinaus auf die sandige Fläche Richtung Friedrichstraße, auf der sich Bauschutt und ausgeschlachtete Trabis zu bizarren Skulpturen türmen. Kunst zwischen Abbruch und Aufbruch.

Aus dem Treppenhaus in seinem Rücken sticht ein Spruch, den ein unbekannter Künstler hingepinselt hat: »Wenn das Nichts den fehlenden Mangel hervorhebt, dann ist! Nichts«. Was aber wird werden, wenn die schwedische Immobilienfirma Skanska oder ein anderer Großinvestor die 39.000 Quadratmeter große Fläche inklusive Tacheles-Grundstück aufkauft? Wenn das sandige Nichts mit Einkaufspassagen und Wohnungen überbaut wird? »Wir hoffen auf kritische Kooperation«, sagt Jochen Sandig. Der weitere Ausbau des Tacheles koste 30 bis 40 Millionen Mark, und angesichts der leeren Stadtkassen müsse die wohl der Investor aufbringen. »Aber wenn der uns dann ins Programm reinredet, dann wäre alles verloren.«

Auch die befreiend offenen Grenzen zwischen dem Innen und Außen einer Ruine wären dann wohl dahin. Im Martin-Gropius-Bau hängen Entwürfe der Tacheles-Architekten Schulz, Engstfeld und Sockel, die diese Offenheit mit einer Überglasung des Torbogens und der »Puppenstubenzimmer« zu retten versuchen. Darf ein im Glashaus gestrandeter Wal mit Steinen werfen? Ute Scheub

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