Verrutschte Perspektiven

■ „Ihr habt uns Auschwitz nie verziehen“ — taz vom 19.11.91

Yoram Kaniuk fragt: „Wo war die deutsche Friedensbewegung, als Sadam Hussein Israel mit deutschem Giftgas bedrohte?“ Er beantwortet die Frage selbst: „Als die ersten Scud- Raketen auf Tel Aviv fielen, haben wir erwartet, daß Hunderttausende mit gelben Sternen auf der Brust vor den deutschen Gift-Gas-Fabriken aufmarschieren. Stattdessen zogen sie vor die amerikanische Botschaft.“

Vielleicht sind die Perspektiven ein bißchen verrutscht. Angeblich gibt es in diesem unserem Land Millionen von „Freunden Israels“, die selbstverständlich nirgens waren — weder vor deutschen Gift-Gas-Fabriken noch vor der amerikanischen Botschaft. Da sollte mensch doch eigentlich froh sein, daß es überhaupt noch welche gab, die sich bemüht haben, einen Beitrag zum Frieden zu leisten.

Ich war selbstverständlich bei den wenigsten Demonstrationen und Kundgebungen in der BRD dabei. Aber ich weiß, daß bei jeder dieser Veranstaltungen die RednerInnen nicht müde geworden sind zu betonen, daß es deutsches Gift-Gas sei, mit dem die Bevölkerung Israels bedroht werde.

Bei aller Trauer: Eigentlich ist es ja nur putzig, daß „die Linke“ und „die Friedensbewegung“ und für diese Bedrohung mitverantwortlich sein sollen. Ich hatte bisher immer gedacht, dafür seien die Gift-Gas-Industrie und die Bundesregierung zuständig und verantwortlich. Aber so ist das, wenn die Perspektiven verrutschen.

Richard Kelber, Dortmund