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In das Innere der Töne

■ Expeditionen in Schorndorf

Sinnestäuschung! Elektrisch verzerrt klingt die Gitarre wie ein Cello. Mit viel Vibrato wird jeder einzelne Ton in die Länge gezogen. Dann huschen die Finger über das Griffbrett und tasten eine Tanzmelodie ab mit einem völlig verdrehten Rhythmus, wie man sie aus Südosteuropa kennt. Schon das Auftaktkonzert mit dem Gitarristen Enver Izmailov zielte mitten hinein in die Fragestellung, wie produktiv Widersprüche sein können.

Zwei Tage lang dauerten die Expeditionen in musikalisches Grenzgebiet — ein kleines Festival im württembergischen Schorndorf. Fünf Musiker(innen) aus Berlin, Sibirien, New York, der Türkei und der Krim — auch musikalisch aus den unterschiedlichsten Gebieten — hatten sich auf die Reise begeben, um das unterirdische Beziehungsgeflecht ausfindig zu machen, das zwischen der traditionellen Musik und den radikalen Klängen der Avantgarde vermutet wird. Auf den ersten Blick herrscht das Trennende zwischen den beiden musikalischen Gattungen vor. Der Kosmos der ethnischen Volksmusik ist auf Gebrauch ausgerichtet und deswegen stark adressatenbezogen. Es ist keine autonome Musik im Sinne der „l'art pour l'art“-Attitude, sondern war als Tanzmusik immer Mittel zum Zweck, an Bewährtem orientiert. Dagegen rebelliert die Welt der Avantgarde. Sie produziert Kunstmusik in reinster Form, die sich selbst genug und immer auf Neuentdeckung aus ist.

Unterschiedliche Musiker gehen unterschiedliche Wege. Burhan Oecal — Trommler, Perkussionist und Saitenmusiker — kommt aus einem Dorf nahe Istanbul. Sein musikalischer Horizont ist durch seinen biographischen Hintergrund geprägt. Sowohl in der klassischen Hofmusik der Türkei als auch in der traditionellen Volksmusik ist er zu Hause. Seit Ende der siebziger Jahre arbeitet Oecal in Europa, wo er mit der improvisierenden Avantgarde in Berührung kam. Aus dieser Begegnung bezieht er starke Impulse, die er bis heute erst ansatzweise verarbeitet hat. Die Improvisation bildet dabei die Schnittstelle zwischen dem Jazz und der orientalischen Musik. Im „Taksim“, der instrumentalen Einleitung eines Stückes, kennt auch die türkische Musik das Element der spontanen, musikalischen Erfindung. Mit rasender Geschwindigkeit trommeln die Finger auf das Fell eines nur handgroßen Tamburins und erfinden aus dem Stegreif heraus immer neue, aberwitzige rhythmische Figuren, die auf den komplexen, ungeraden Metren tanzen. In einer einzigen kleinen Fingerkuppe scheint Oecal das ganze rhythmische Universum präsent zu haben.

Schwieriger dagegen gestaltet sich sein Duo mit dem sowjetischen Gitarrenspieler Enver Izmailov. Dem Musiker vom Schwarzen Meer fällt es schwer, sich aus dem Bannkreis seiner tartarischen Volksmusik zu befreien. So virtuos er seine „Tapping“-Technik à la Stanley Jordan auf dem Gitarrenhals entwickelt, so wenig kann er sich vom traditionellen Folklorekonzept lösen.

Wesentlich leichter tut sich damit die mongolische Sängerin Sainkho Namchalak. Wenn sie in den Topf der traditionellen Vokaltechniken ihrer Region greift, klingt das für europäische Ohren schon weit extremer als die gesanglichen Hexenbeschwörungen einer Diamanda Galas. Oszillierende Obertongesänge gehören zu ihrem Repertoire, aber auch wuchtige Kehlkopfvokalistik. Ein geübter Musiker, wie der (ehemals Ost-) Berliner Freejazz-Posaunist Conny Bauer, weiß damit etwas anzufangen. Im Duett mit der „Frau der hundert Stimmen“ begibt er sich auf eine Forschungsreise in das Innere der Töne. Auch er kann mit seinem vibrierenden Blech Obertoneffekte erzielen, und indem er gleichzeitig in das Instrument singt und bläst, wird es mehrstimmig. Das sind Gemeinsamkeiten, die zum Experimentieren einladen. Dabei kommt Bauer seine ausgefeilte Zirkulationsatmung zugute (Einatmen durch die Nase, Ausatmen durch den Mund), die den Gesangstechniken von Mönchen im Himalaya abgeguckt ist. Sie erlaubt dem Improvisator über längere Distanzen zu gehen, ohne zum Luftschnappen absetzen zu müssen. Die Spannungsbögen werden länger und länger.

In ähnlicher Perfektion handhabt auch Ned Rothenberg diese Technik. Allerdings kombiniert der New Yorker Holzbläser sie mit weiteren Verfahren, die er aus dem Fundus der ethnischen Musiken Afrikas entliehen hat und die in der Musikethnologie unter der Bezeichnung „indirekte Melodiegestaltung“ bekannt sind. In seinen kompakten, konzentrierten Stücken bläst Rothenberg auf seinem Altsaxophon melodische Reihenmuster, in deren Lücken er Töne mit anderer klanglicher Färbung schiebt. Diese setzen sich allmählich zu einer zweiten Melodie zusammen, was in Momenten höchster Verdichtung eine Art polyphoner Illusion ergibt, wobei Affinitäten zur Minimalmusik offensichtlich sind, die aus den gleichen Quellen schöpft. Im Gegensatz dazu lotet er auf der Baßklarinette das Potential an Obertönen aus. In seinen fragilen Kompositionen, die er bis in die letzte Nuance hinein ausgefeilt hat, spaltet er den Klang. Tief unten brummeln die Grundtöne, über die er eine Reihe von Obertönen legt, welche er dem vibrierenden Material seines Instruments entwindet. Christoph Wagner

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