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Dichtung und Wahrheit

■ Die MfS-Gesamtausgabe in 220 Kilometern als großer deutscher Roman ein Plädoyer für Geschichtsaufarbeitung mit ästhetischen Mitteln

Dichtung und Wahrheit Die MfS-Gesamtausgabe in 220 Kilometern als großer deutscher Roman — ein Plädoyer für Geschichtsaufarbeitung mit ästhetischen Mitteln

Wenn irgendwo das „Ende der Literatur“ verkündet wird, darf man in aller Regel getrost weghören — die Feuilletons folgen mit derlei Verkündigungen dem stetigen Wechsel der Moden im Kulturbetrieb — sei es nun das Ende der neuen deutschen Literatur, das Sterben des Films oder der allfällige Tod des Theaters. Diesesmal aber wird es wirklich ernst, und zwar für die ernste Literatur. Aufgrund eines historisch einmaligen Gesetzes ist sie von einer gigantischen Konkurrenz bedroht: Das unter dem Pseudonym „MfS“ in 40 Jahre währender Kleinarbeit niedergelegte Werk umfaßt eine Länge von 220 Kilometern — die Stasi-Akten.

Allein die Masse ist noch kein Argument. Was hat dieser Himalaja an Geheimdienstakten schon mit Literatur zu tun, zumal man sie, wenn überhaupt, nur auf dem Schwarzmarkt zu Erpressungszwecken verkaufen kann? Als Rohmaterial allerdings sind diese Akten von solch unschätzbarer Bedeutung, daß kein Autor künftig an ihnen vorbei kommt. Wie ein sensationelles Ausgrabungsstück die Zunft der Paläontologen oft über Jahrzehnte beschäftigt, müßte der Fundus der Stasi die Schriftsteller auf Dauer absorbieren: ein Meer von Fakten und Details, aus dem, keine Frage, der deutsche Roman (und mehr als einer) des 20. Jahrhunderts zu destillieren wäre. So viel „volles Menschenleben“, so viel Alltägliches und Unerhörtes, Grausames und Absurdes, Biographisches und Soziographisches, wie diese Stasi-Ameisen zusammentrugen, dokumentierten und inszenierten, kann kein Dichterhirn je erdenken, soviele Details kein noch so manischer Rechercheur ausgraben. Seit letzten Freitag gibt es einen neuen Quell deutscher Dichtung und Wahrheit: der Copy-Shop gegenüber der Gauck-Behörde.

Ein Paranoiker, sagt William Burroughs, ist einer, der alle Fakten kennt. Die 220 Kilometer der Gesamtausgabe MfS sind insofern Zeugnis staatlicher Paranoia: Man erlag, bis zuletzt, der Fiktion, alle Fakten zu kennen. In einer Fabel von Jorge Luis Borges erstellen die Kartographen eines Königsreichs eine Karte im Maßstab 1:1, die jedes Detail des Territoriums erfaßt — doch das Reich zerfällt und mit ihm die Karte. Die Könige, können wir heute ergänzen, hießen Ulbricht und Honecker, und ihr Kartograph Mielke. Das Reich ist zerfallen, und hätten nicht ein paar Leute rechtzeitig Alarm geschlagen, die Karte wäre ebenfalls zerbröselt. So aber konnten, auch wenn alte wie neue Machthaber wichtige Eintragungen unkenntlich machten, die größten Teile gerettet werden.

Keine Phase der Weltgeschichte dürfte genauer dokumentiert sein wie die des real existierenden Sozialismus „DDR“ anhand dieses Duplikats. Was sind die Jahresausgaben der ‘New York Times‘, die Uwe Johnson für seine Jahrestage nutzte, was die sieben Kisten Tagebuchaufzeichnungen, in die sich Martin Walser für seinen jüngsten Roman zwei Jahre lang vergrub — verglichen mit diesem Realitäts-Archiv? Gewiß sind es nicht allein die Dokumente, sondern die Verdichtung des Künstlers, die für die „Wahrheit“ von Literatur sorgen — bedenkt man jedoch das Heer von Schriftstellern, das sich zwar auszudrücken vermag, dem aber jeder Gedanke fehlt, kann der Stasi-Schatz diese Phantasielücken in jeder Hinsicht füllen.

Von Bergen-Enkheim bis Posemuckel haben die Stadtschreiber ausgedient — jede Stadt braucht hinfort ihren Stasi-Schreiber. Nicht als Fortsetzung der Aufarbeitung mit anderen Mitteln, sondern als ihr eigentlicher Beginn: nicht mit politischen, nur mit ästhetischen Mitteln kann diese Geschichte erledigt werden. Für die Rehabilitierung der Opfer können die Gerichte das Nötige tun, Klarheit des Bewußtseins indessen ist durch die Justiz nicht zu erreichen, das „schmutzige Erbe“ nicht durch politische Säuberung zu bewältigen. Sondern durch Erkenntnis: Nur in der ästhetischen Brechung wird auf dem Realitätsspiegel, den die Stasi-Krake von ihrem Reich anlegte, etwas sichtbar — wir lernen aus der Geschichte durch Geschichten. Literatur, die an der Zeit sein will, hat diese Geschichten zu erzählen. Tut sie es nicht, ist sie obsolet — am Ende.

Im Moment hat es ganz den Anschein, als ob sie es sei. Statt die ästhetische Vermittlung voranzutreiben, agieren die Künstler als politische Säuberer. Biermanns „Arschloch“ verstopft die Feuilletons, wo es Wichtigeres zu fordern gäbe: etwa die Einrichtung eines Literaturbüros in der Gauck-Behörde. Und die Freiheit der Kunst in Sachen Stasi- Akten, die Ent-Kommerzialisierung des Enthüllungsgeschäfts, wie es Jürgen Fuchs und der 'Spiegel‘ treiben. Ob Anderson nun ein kleines Arschloch oder ein großer Dichter ist, kann kein Prozeß beweisen, keine Akten- und Fakten-Huberei — sondern nur sein nächstes Buch. Mathias Bröckers

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