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Denkzugaben

Und: Wie man Lévinas „verbessert“. Vom Erhalten des Fremden  ■ Von Leopold Federmair

Der Vorwurf ins Emmanuel Lévinas oft gemacht worden: Seine Philosophie des Dialogs, der Verantwortung, der Achtung der Unterschiede sei naiv und wirklichkeitsfremd, sie werde den Tatsachen nicht gerecht. Tatsächlich sind heute Fremdenhaß, Nationalismus und Krieg ebenso auf der Tagesordnung der Verantwortungslosigkeit und massenhafte Vereinsamung. Das menschliche „Antlitz“, von dem Lévinas auf beinahe fromme Weise spricht, so als hätte nie jemand in ein solches hineingeschlagen, als wäre das überhaupt die größte Unmöglichkeit auf Erden, bezeugt meist nur die Gedrücktheit oder Gebrochenheit, den Ekel, die Heuchelei und Selbstgefälligkeit des jeweiligen Menschen. Lévinas hält mit seiner Antwort nicht hinter dem Berg: Ja, so ist es tatsächlich, aber die elende Tatsächlichkeit beweist nur die Notwendigkeit einer Ethik, die sich dem Ressentiment und der Gleichgültigkeit entgegenstellt. Erst, wenn das Elend von der Welt verschwunden ist, wird auch die Ethik überflüssig, und andererseits genügt schon ein einziges menschliches Antlitz, ein einziger Zug der Güte in einem solchen Antlitz, um die ethische Hoffnung darauf zu bauen. Ethik ist keine Abbildung von Tatsächlichem und auch kein gesellschaftliches Heilmittel; durch das Antlitz, zumal das bedrückte, geschlagene, ergeht bloß ein Ruf an mich, der eine Antwort fordert.

Die Antwort, wie Lévinas sie fordert, mündet weder in eine allgemeine Überzeugung noch in die Vereinigung zweier Einzelner; sie bedeutet Fürsorge — ein Begriff, der an Heidegger anknüpft — und Anerkennung der Andersheit des Anderen. Der neuentflammte, von vielen schon totgeglaubte Fremdenhaß unterstreicht die Aktualität der Philosophie Lévinas'. Gescheitert ist in Wirklichkeit der alte Streit zwischen Unviversalismus und Differenz, der beiden Parteien, die auf je eigene Weise unfähig sind, ein friedliches Zusammnenleben zu denken. Lévinas ortet Universalität gerade in der Besonderheit und Einzigkeit des niemals restlos zu assimilierenden Einzelnen. Sollte es ein historisches Modell solcher Universalität geben, dann wäre sein Träger das in alle Welt verstreute Judentum, das in seiner Fähigkeit zur Anpassung umso mehr seine Bedeutung erwies. Die Juden tragen eine unsichtbare Grenze mit sich, sagt Lévinas in einem Vortrag über Franz Rosenzweig. Die Grenze (zum Anderen) ist also transportabel, verschiebbar, in beide Richtungen überschreitbar. Denkbar wie Lévinas oder der von ihm bewunderte (und kritisierte) Martin Buber sind Konstrukteure des Zwischenraums.

Es wird demnach nicht überraschen, daß sich eine Philosophie, die die Möglichkeiten und Formen von Kommunikation erforschen will, in der Form des Dialogs mindestens ebenso geläufig ausspricht wie in großen Systemen oder Monographien. Außer sich ist nach Eigennamen der zweite Band kleinerer Schriften Lévinas', die sich mit Schriftstellern und Philosphen, die in vielen Fällen Freunde oder Kollegen waren, auseinandersetzen.

Neue Liebenswürdigkeit

Es sind dies teils bekannten Namen wie Heidegger oder Kierkegaard, teils weniger bekannte Namen wie der des Paters Herman Leo van Breda, des Gründers des Husserl- Archivs in Leuwen. Über den Kommentar zu deren Schriften hinaus bemüht sich Lévinas, ihre Gestalt, ihr Antlitz, ihre Art und ihr Sprechen erstehen zu lassen. Bei Kontrastfiguren wie Kierkegaard oder Nietzsche, denen er dennoch viel verdankt, kritisiert Lévinas bezeichnenderweise ihre Härte und ihren Solipsismus. Die Darstellung ist vom Bemühen geprägt, dem jeweiligen Autor gerecht zu werden — und ihm gleichzeitig etwas hinzuzufügen, eine Gabe, etwas unverwechselbar Lévinassches. Im Grunde geht es ihm niemals darum, ein Denksystem etwa aus den Angeln zu heben; statt dessen folgt er aufmerksam den fremden Gedankengängen, und zwar stets bis zu einem bestimmten Punkt. An jenem Punkt können sich die Wege trennen, aber auf jeden Fall erfolgt die Zugabe einer Ergänzung für das sei es getrennte, sei es gemeinsame Weitere.

Die Gabe ist natürlich das Paket von Philosophemen des menschlichen Antlitzes. Man kann sich hier und da fragen, ob sie wirklich noch mit dem „reinen Ich“ Husserls oder dem mystischen Dualismus Jean Wahls zusammengehen. Aber da es wohlgemeinte Vorschläge sind, lohnt sich zumindest die Frage und das weitere Nachdenken. Ein neuer Ton der Liebenswürdigkeit in der Philosphie — warum nicht, vielleicht ist er fruchtbarer als die erbitterten Prinzipienschlachten von ehedem.

Für den Leser, der sich mit dem Werk Lévinas erst vertraut machen will, hat die Gebefreudigkeit des Philosphen nicht zuletzt den Vorteil, daß er an vielen Stellen und in verschiedener Ausführung, immer kurzgefaßt in nuee und oft mit der Zugabe eines augenfreundlichen Lichtschimmers, die Essenz der Entdeckungen und Erfindungen Lévinas' kennenlernen kann. Die kleinen Schriften wie Eigennamen (ebenfalls Hanser- Verlag) und Außer sich empfehlen sich dazu eher als das systematischere Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit.

Man kann aus der Philosphie Lévinas' vieles ableiten, man kann sich mancherlei schenken lassen, unter anderem eine Theorie des Übersetzens. es ist gar nicht nötig, so wie Frank Miething, der Übersetzer von Außer sich, auf Walter Benjamin zurückgreifen, um zu rechtfertigen, daß der übersetzte Text etwas von der Fremdheit des Originals erhält. Vom Erhalten des Fremden spricht doch Lévinas selbst in jeder seiner Zeilen. Nun ist es aber so, daß Miething dem Text Lévinas' nicht nur eine beinahe zwanzigseitige, wenig erhellende, Philosphielexikonwissen reproduzierende Nachschrift anhängt, sondern außerdem Leitsätze zitiert, gegen die sein Übersetzen ständig verstößt. Ob Lévinas' Stil wirklich „sprunghaft“ ist, sei dahingestellt — die Übersetzung ins Deutsche glättet das Original und verleiht ihm eine vermeintliche Eleganz, die den Lesefluß nicht beschleunigt, sondern stört. Sprunghaft, unklar, pseudo- rätselhaft ist an manchen Stellen die Übersetzung, nicht das Original.

So finden an manchen Stellen nicht nur Verkürzungen und Kontraktionen statt, sondern geradezu Streichungen. Solche Unbescheidenheit widerspricht peinlich unbewußt der Lévinasschen Ethik, die Preziosität dessen Stil. Ein Teil der Schuld wird der Verlagsstrategie zukommen, Lévinas' Gelegenheitsschriften schubweise-vorsichtig, dafür aber entstellt, den ursprünglichen Kontekten und nachträglichen Ordnungen entfremdet, mit veränderten Titeln und ein paar naseweisen Anmerkungen versehen, herauszubringen. Das macht Lévinas vielleicht (?) besser konsumierbar, beschneidet aber die Lebendigkeit seines Werks.

Emmanuel Lévinas: Außer sich. Meditationen über Religion und Philosphie. Hrsg. u. aus d. Französischen übersetzt von Frank Miething. Carl Hanser Verlag (Edition Akzente) 1991

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