: SOMNAMBOULEVARD — ABENDZEITUNG IM WEL-TRAUM Von Micky Remann
Glaub mir, im Traum ist es leichter, für eine Zeitung zu schreiben, als eine solche zu lesen. Heut' nacht hab' ich's versucht mit der Lektüre, und es war schwierig. Uns mangelt es ja nicht an einem entwickelten Pressewesen, wir haben die buntesten Journale und Gazetten auf dem Somnamboulevard, und was darin geschrieben steht, ist auch stets vollkommen wahr. Nur ist das Druckbild leider sehr unbeständig. Zum Beispiel auf der letzten Seite, wo ich vorhin noch den Satz las: „Da blickt doch kein normaler Mensch mehr durch! Und daß jetzt Schlafwandeln als Qualität angepriesen wird, wo das doch immer ein Zeichen von unverarbeiteten Konflikten ist...“, da stand beim nochmaligen Hinschauen plötzlich folgende Nachricht:
„Namboul. (dpn/afs) — Gestern war ich allein am äußersten Ende eines Bootsstegs, der weit ins Meer ragte. Das Licht war mulmig hell, und vor mir lagen drei reglose Fische auf dem Holz. Ich dachte, na, die sind wohl schon hinüber, legte sie aber trotzdem vorsichtig ins Wasser. Bald fingen sie wieder an zu zappeln, und ich war froh, daß sie doch nicht tot, sondern lebendig waren. Die Fische schwammen davon. Da machte es wusch! Und direkt vor mir tauchte der Rücken eines riesigen Wals aus den Fluten auf, seine Haut war grau und braun mit vielen Flecken. Ich war erschrocken, ich spürte seine Gewalt und seine Kraft, aber ich hatte keine Angst. Er hätte mit einem Schwanzschlag meinen ganzen Bootssteg weghauen können, aber er kreiste nur ruhig und gemächlich entgegen dem Uhrzeigersinn um mich herum. Ich wußte nicht, ob er männlich oder weiblich, sondern nur, daß es ein unendlich altes Wesen war. Einzig der Rücken war zu sehen, seine Augen blieben unter Wasser. Ich verfolgte ihn, und in dem klaren Wasser konnte ich sehen, daß tief unter ihm noch zehn andere Wale wie schwarze Schatten schwammen. Er war mit dem ganzen Clan gekommen...“ Daß ich über diese Meldung eingenickt sein mußte — so wie man bewußt aufwachen kann im Traum, ohne daß der Körper wach wird, kann man natürlich auch bewußt wieder einschlafen —, daß ich eingenickt war, merkte ich erst, als brüllendes Gelächter auf dem Somnamboulevard mich weckte. Augenblicklich war ich wieder hellwach im Traum und schaute in meine Zeitung, doch da stand schon wieder was völlig anderes drin: „Quatsch, es gibt genausowenig kulturelle Unterschiede beim Träumen, wie es verschiedene Arten des Schlafens gibt.“ Nun erkannte ich, daß es diese Falschmeldung war, die den Anlaß für die allgemeine Heiterkeit bot. Der ganze Somnamboulevard hallte von ansteckendstem Gelächter wider. „Bitte, johlt nicht so laut!“ prustete ich, „sonst steigt mein Energielevel im Gehirn, und ich wache auf, und das würde den sofortigen Abbruch meiner Kolumne bedeuten!“ Nachdem sich meine Mitträumer besänftigt hatten, deuteten sie auf eine neu eingewechselte Überschrift in der Zeitung: „Auf zwanzig Delphinträume kommt ein Waltraum im Weltraum...“, aber weiter las ich nicht.
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