: Wenn die Immunabwehr verrücktspielt
■ Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über den Mechanismus der HIV-Erkrankung/ Verblüffende Ergebnisse an Mäusen und Affen erhärten die These von Autoimmun-Reaktionen bei Aids/ Das Aids-Virus HIV trickst die körpereigene Abwehr aus
Mit welchen Tricks schafft es das Aids-Virus HIV, das hocheffiziente menschliche Immunsystem im Laufe von fünf, zehn oder noch mehr Jahren allmählich außer Gefecht zu setzen? Diese für das Verständnis der HIV-Erkrankung entscheidende Frage ist — trotz der rasant wachsenden Detailkenntnisse — nach wie vor unbeantwortet. Zwei kürzlich veröffentlichte Forschungsergebnisse haben jetzt für einigen Wirbel gesorgt und ausreichend Stoff für neue Überlegungen geliefert. Sie stützen die These, daß bei Aids Autoimmun- Prozesse ablaufen — das sind „falsche“ Abwehrreaktionen der Körperpolizei, die gegen die eigenen Zellen gerichtet sind.
Die einschlägigen Wissenschaftsblätter sparten nicht mit starken Worten, als sie die neuen Befunde kommentierten. Die internationale Forschergemeinde sei „schockiert“ und „bestürzt“, die „wissenschaftlichen Grundlagen“ in Sachen Aids seien „bedroht“ und wichtige Mechanismen der Krankheit offenbar mißverstanden worden. Das Magazin 'Nature‘ suchte in der allgemeinen Verwirrung über die Neuigkeiten sogar beim Aids-Dissidenten Peter Duesberg Zuflucht, der seit Jahren predigt, daß Aids überhaupt nichts mit dem HI-Virus zu tun habe. Doch die neuen Forschungsergebnisse stellen nicht in Frage, „ob“ HIV für Aids verantwortlich ist, sondern „wie“. Was aber haben Wissenschaftler nun tatsächlich herausgefunden?
Antikörper ohne Kontakt mit dem Virus
Zunächst hatte ein kanadisches Forscherteam über seine Versuche mit Mäusen berichtet. Verwendet wurden zwei Mäusestämme, davon litt einer an einer Autoimmun-Erkrankung. Der andere war — durch die Injektion von Zellen einer fremden Mauslinie — künstlich gegen Mäusezellen immunisiert worden (alloimmun). Beide Stämme hatten eine verblüffende Eigenschaft gemeinsam: Sie besaßen Antikörper, die auch mit HIV reagierten. Und dies, obwohl sie nachweislich niemals mit dem Aids-Virus in Kontakt geraten waren.
Eine Woche nach dieser Veröffentlichung berichtete das britische Wissenschaftler-Team von Jim Scott über Versuche mit Affen. Scott hatte Makaken geimpft, und dabei gelang es ihm, durch die Injektion von zuvor unschädlich gemachten, virusinfizierten menschlichen Zellen, mehrere Tiere vor dem Affen-Aids-Virus SIV (sehr eng verwandt mit dem Humanen Aids-Virus HIV) zu schützen. Das eigentlich Überraschende: Auch in der Vergleichsgruppe, die einen „leeren“ Impfstoff erhalten hatte — also dieselben Zellen, aber ohne Virusbestandteile — waren zwei von vier Tieren gegen die Infektion gefeit. Auch sie hatten also eine Immunantwort gebildet, die sie vor der Infektion mit dem Affen-Aids- Virus schützte, obwohl sie mit diesem Virus nicht in Berührung gekommen waren.
Damit liegt dasselbe irritierende Ergebnis bei Affen wie bei Mäusen vor: wirksame Antikörper ohne Viruskontakt. Das ist wie ein Alarm ohne Einbrecher. Wie ist das zu erklären? Als Antwort auf diese Frage wird folgende Hypothese diskutiert: HIV hat eine solch starke Ähnlichkeit mit einer anderen Struktur „XY“, daß die Antikörper gegen „XY“ auch gegen HIV wirksam sind. Wer aber ist der große Unbekannte „XY“? Viele Wissenschaftler glauben, ihn zu kennen.
Schon lange ist bekannt, daß bestimmte Abschnitte der äußeren Hülle von HIV eine starke Ähnlichkeit mit einem der sogenannten MHC-Moleküle aufweisen, die für die Immunabwehr eine Schlüsselfunktion haben. Die MHC-Moleküle (Major Histocompatibility Complex) dienen der Identifikation von Zellen und sind bei jedem Menschen verschieden. Sie sitzen an der Zelloberfläche wie kleine Fähnchen und signalisieren, ob eine Zelle dem eigenen oder einem fremden Organismus angehört. Mit Hilfe von MHC kann die Immunpolizei also zwischen Freund und Feind unterscheiden.
Wenn Freund und Feind verwechselt werden
Bereits 1986 wurden Arbeiten veröffentlicht, die dem Aids-Virus unterstellten, daß es das Immunsystem täusche. Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einer bestimmten Klasse von MHC-Molekülen (es gibt mehrere Fähnchen-Typen) werde es irrtümlich für einen Freund gehalten. Deshalb könne es sich auch relativ ungestört breitmachen und sich ausgerechnet an die Immunpolizisten (T- Zellen) andocken. Sobald der Schwindel auffliege, spiele die Immunabwehr des Körpers verrückt: Nun würden nicht nur die falschen, sondern auch die richtigen Freunde, also sämtliche körpereigenen Träger dieser besonderen Art Fähnchen, attackiert. Das Aids-Virus hätte damit eine verhängnisvolle Auto-Immunreaktion provoziert.
Angewandt auf die Mäuse und Affen, lassen sich mit dieser Theorie die verblüffenden Befunde erklären. Die beiden Versuchstiere haben mit ihrer Immunabwehr eigentlich auf MHC-Moleküle reagiert — die autoimmunen Mäuse auf die körpereigenen, die alloimmunen Mäuse und die Affen auf solche körperfremder Zellen. Ihre Abwehrreaktion war aber gleichzeitig gegen HIV wirksam, was beweisen würde, daß HIV tatsächlich die MHC-Moleküle imitiert. Damit wäre Aids eine Autoimmunerkrankung — der Körper greift die eigenen Zellen an.
Dies aber hätte gravierende Konsequenzen für die Therapie- und Impfstofforschung. Die bisherigen Strategien müßten überprüft werden. Wenn HIV tatsächlich das Immunsystem so verwirrt, daß körpereigene Zellen gekillt werden, dann müßte dieses Immunsystem nicht gestärkt, sondern abgebremst, dann müßten die Immunabwehr schwächende Medikamente (Immunsuppressiva) verabreicht werden.
Ein weiteres Teil im großen Aids-Puzzle
Noch bleiben aber viele Fragen offen. So gibt es einige wenige HIV-infizierte Patienten, die Immunsuppressiva einnehmen müssen, weil sie ein Organ-Transplantat erhalten haben. Um die Abstoßung des fremden Organs zu verhindern, sind die Empfänger auf diese Medikamente angewiesen. Bei dieser seltenen Gruppe von HIV-Infizierten ist aber, so Uli Marcus, Sprecher des Aids-Zentrums in Berlin, weder ein besserer noch ein schlechterer Verlauf der HIV-Erkrankung erkennbar. Was nun?
Hilfe bietet möglicherweise die Erklärung von Reinhard Kurth vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen. Er betrachtet den Autoimmunprozeß bei Aids nur als „eine Teilkomponente“. Daß es tatsächlich zu solchen Reaktionen gegen den eigenen Körper kommt, sei an vielen klinischen Symptomen bei Aids-Patienten erkennbar. Allerdings gebe es, wie häufig in der Virologie, immer mehrere Prozesse gleichzeitig. Ein anderer, unbestreitbarer Prozeß sei aber der direkte Angriff von HIV auf bestimmte Wirtszellen des Körpers. Für eine Abkehr von der bisherigen Therapie-Strategie, die Virus-Vermehrung zu stoppen, bestehe deshalb kein Anlaß. Und Kurths Kollege Johannes Löwer ergänzt trocken: „Wenn sich das Virus nicht vermehren kann, dann kann es auch keinen Autoimmunprozeß auslösen.“
Einig sind sich alle Forscher, daß die Autoimmunkomponente von Aids durch zusätzliche Experimente aufgeklärt werden muß. Dann wäre ein weiteres Teil im großen Puzzle gefunden und das Verständnis von Aids um einen wichtigen Aspekt erweitert. Aber schon jetzt gilt: Bei keiner anderen Krankheit hat die medizinische Forschung innerhalb von zehn Jahren so viele Erkenntnisse gewonnen.
Manfred Kriener
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen