: Wie Kafka nach Palästina kam
■ Alltag in den besetzten Gebieten
Ich hätte sie gern gehört, die Lieder, die das Täubchen unseres Helden besangen. Gesehen habe ich ihn, wie er dastand und in die Hosen pißte, als ihm klar wurde, daß der Beschneider diesmal wegen ihm ins Dorf gekommen war. Ich hätte auch in die Hosen gepißt. Alltag in Palästina. Alltag in den besetzten Gebieten. Schlicht und schelmisch erzählt, öffnen die Geschichten von Wadi Soudah den jungen LeserInnen die Augen für eine Welt, die sie nur unter den Stichworten „Intifada“ oder „besetzte Gebiete“ aus den Nachrichten kennen. Diese Stichworte sind natürlich auch prägend für die Erzählungen Wadi Soudahs. Die Angst vor den Soldaten, ihre Prügeleien und der wachsende Widerstand der Menschen tauchen immer wieder in kleinen Episoden auf — leider manchmal als politische Erklärung die Erzählebene verlassend. Doch der Autor findet schnell wieder zurück zu seinem Humor, zum Beispiel dann, als der Sohn zur Mutter sagt: „Die Amerikaner sind auf dem Mond gelandet“, und die Mutter listig antwortet: „Gelobt sei Allah, sie haben uns verlassen.“ Oder wenn er die Mutter das Telefon als „Hahn“ beschreiben läßt: „Der arme Hahn, warum habt ihr ihn festgebunden? Er schreit sich heiser — befreit ihn, laßt ihn raus! Ihr armen herzlosen Männer.“ Wie oft hat mich selbst dieses Telefongebimmel frühmorgens geärgert, das mich aus dem Schlaf holte. Wie oft habe ich dieses Telefon verflucht. Der Vergleich mit einem festgebundenen Hahn, der befreit werden muß, ist mir nie gekommen. Aber mir fallen natürlich auch eintausendsechshundertfünfundzwanzig Gründe ein, die dafür sprechen, mein Telefon zu behalten.
Oder wenn Wadi Soudah anfängt, über uns Deutsche zu spotten, die Albernheiten unserer Bürokratie ad absurdum führt, die nicht nur ihm Ängste einflößen. Ähnliches passiert, wenn er im Supermarkt einkaufen geht oder medizinisch be- beziehungsweise mißhandelt wird. Wenn wir dem Ich-Erzähler folgen, haben wir die Chance, etwas von uns zu sehen, das uns kein Spiegel bieten kann. Seine — im positiven Sinne — „naive“ Sichtweise ist für uns (die wir ach so solidarisch mit „Ausländern“ sein wollen) entlarvend. Die Überheblichkeit unseres Rechtsbewußtseins als die „besseren Deutschen“ entpuppt sich da schnell als rechtes Bewußtsein und macht klar, daß Solidarität als Anspruch gleichzeitig auch Ausgrenzung bedeuten kann. Peter Huth
Wadi Soudah: Kafka und andere palästinensische Geschichten. Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt 1991. 122 S., 24,80 DM
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