Das Parlament als Wanderzirkus

Unter den 536 Europaparlamentariern wächst der Frust über ihre Statistenrolle/ Die Politik wird vom Ministerrat, der EG-Kommission und den Lobbyisten gemacht/ Hoffnungen auf Maastricht  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Sie sind es leid, als Statisten im Europaspiel verheizt zu werden. Das „Demokratiedefizit“ wollen sie beseitigt sehen. In seltener Einmütigkeit wollen Europas gewählte Volksvertreter nun endlich mehr Mitspracherechte durchsetzen. Der Zeitpunkt sei gekommen, behaupten sie, schließlich soll schon nächste Woche im holländischen Maastricht eine politische Runderneuerung der EG beschlossen werden. Daß sich die Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft dort zu einer wirklichen Aufwertung des Europaparlaments (EP) durchringen, ist so gut wie ausgeschlossen. Angedrohte Konsequenz der Parlamentarier: Sie wollen sich weigern, die geplanten EG- Reformverträge abzusegnen.

Eine hohle Geste, denn die psychologisch äußerst schwierige Befindlichkeit der VolksvertreterInnen läßt einen solchen Schritt letztendlich nicht zu: Ihnen fehlt ganz einfach das nötige Selbstwertgefühl. Kein Wunder, denn fast alle Initiativen die die 536 mehr oder weniger engagierten Abgeordneten ergreifen bleiben im EG-Getriebe hängen, das völlig auf die Kommission und den Ministerrat orientiert ist. Also schimpft man auf die „sinnlose Tretmühle“ — und stürzt sich doch gleichzeitig um so verbissener auf den nächsten „Bericht zum Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Einführung eines Verfahrens in die Verfahrensregeln zum jährlichen Bericht der Kommission über die Anwendung von Gemeinschaftsrecht im Zusammenhang mit einer Veränderung der Regeln“.

Im Frust wächst die Arbeitswut, aber auch ein kollektives Minderwertigkeitsgefühl, gepaart mit individuellem Größenwahn. Effekt dieses tragikomischen Schicksals der Euro-Artisten: In unregelmäßgen Abständen lassen sie sich zu dramatischen Drohungen hinreißen, um danach sofort wieder den Kopf einzuziehen und mit klagender Stimme nach dem großen Bruder Helmut Kohl zu rufen. Der deutsche Urdemokrat soll den Parlamentariern die demokratischen Kastanien aus dem Feuer holen, die sie sich selbst nicht zu nehmen trauen. Was aber hindert die Europaparlamentarier daran, ihre eingeforderten Rechte einfach zu praktizieren? Die Antwort lautet: Sie selbst.

Ein Parlament der Reisekoffer

Beispiel Wanderzirkus: Einmal pro Monat packt der Parlamentariertroß, bestehend aus mehreren tausend Personen, in Brüssel, wo während zwei Wochen Fachausschüsse und Parteigruppen tagen, Akten und Koffer, um zum Plenum nach Straßburg zu eilen. Nach einer viertägigen Dauerdebatte im Europapalast macht sich die buntscheckige Truppe dann wieder auf die Rückreise. Ein Teil bleibt allerdings auf halber Strecke in Luxemburg hängen, wo die Verwaltung des Parlaments einquartiert wurde. Der Verschleiß von Nerven, Zeit und Geld ist enorm, die Reisediplomatie den meisten Abgeordneten zutiefst zuwider.

Eine Mehrheit votiert deswegen seit längerem für einen gänzlichen Umzug nach Brüssel — ohne Erfolg bislang, denn die Regierungen Frankreichs und Luxemburgs sind dagegen. — Auch im Falle der Sozialcharta und der Umweltagentur spuckten die ParlamentarierInnen große Töne, um dann das Feld der EG-Behörde und dem Ministerrat zu überlassen. Umwelt- und Sozialschutz müsse die gleiche Bedeutung eingeräumt werden wie der Schaffung des Binnenmarkts, ansonsten, so drohten sie, würden sie rigide Maßnahmen ergreifen. Die EG- Kommission wollten sie entlassen, zum wiederholten Male dem ehrgeizigen Projekt der EG-weiten Wirtschafts- und Währungsunion nicht zustimmen oder einfach die Gelder blockieren. Nichts dergleichen geschah: Vor zwei Jahren verabschiedeten die EG-Regierungschefs eine nicht bindende Sozialcharta, die jetzt durch ein Aktionsprogramm aufgefüllt werden soll. Und die Umweltagentur ist — ebenfalls dank Mitterrand — bislang ein Papiertiger geblieben.

Freie Bahn für Lobbyisten

Die Liste ist beliebig verlängerbar: Ob bei Ökosteuern oder Gesetzen zur Gentechnologie — jedesmal, wenn Nägel mit Köpfen gemacht werden sollen, machen die parlamentarischen Wortführer einen Rückzieher — sei es auf Geheiß der heimatlichen Parteizentrale, aus Rücksicht auf ihre in einzelnen Mitgliedsländern zu Amt und Würde gekommenen Kollegen oder auf Drängen der Industrielobby.

Wie wenig die Parlamentarier sich und ihre Rechte ernst nehmen, zeigt ihr Umgang mit den Lobbyisten. Deren Erfolgsquote hat so manchen Europaabgeordneten inzwischen immerhin in Alarmstimmung versetzt. Denn das viel beklagte „demokratische Defizit“ in der EG besteht auch darin, daß einzelne Lobbyisten den Gesetzgebungsprozeß weitaus stärker bestimmen als die 536 gewählten Abgeordneten. Vergleicht man deren Zahl mit den mindestens 3.000 Lobbyisten in Brüssel, die sich zur Zeit in Parlament, Kommission und Ministerrat Gehör verschaffen, gewinnt das Ungleichgewicht nach Ansicht des britischen Labour-Abgeordneten Donnelly bedrohliche Ausmaße.

Um dem Wildwuchs einen Riegel vorzuschieben, soll das Parlamentspräsidium nun erstmals Lobbyregeln aufstellen. Denn im Unterschied zum US-Kongreß in Washington, wo nur akkreditierte „Berater“ nach genauen Richtlinien ihrem Geschäft nachgehen dürfen, gibt es in der EG noch keine Regeln für den Umgang mit Interessenvertretern.

An der Machtlosigkeit des Europaparlaments wird jedoch auch das Regelwerk nichts ändern können. Schließlich sind weder die Mitgliedsregierungen noch die EG- Kommission bereit, ihre Spielräume zu begrenzen. Um ihren Einfluß auszubauen, sucht sich die Kommission vielmehr Verbündete im Lobbyumfeld oder schafft sich ihre Lobbyisten gleich selbst — im Verbund mit der Industrie oder gelegentlich auch mit den sogenannten „Nichtregierungsorganisationen“, wie Umwelt-, Verbraucher- und andere nichtkommerzielle Verbände im internationalen Jargon genannt werden. Gegenüber solchem Wildwuchs sind die Abgeordneten nicht gefeit. Manche stehen selbst im Dienste von Firmen und betreiben auf Steuerzahlerkosten bei Kollegen und Mitarbeitern der EG-Behörden Lobbyarbeit.

Daß eine Reform des Europaparlaments in Anlehnung an Modelle wie den deutschen Bundestag das Dilemma lösen wird, glaubt Willy Rothley, sozialdemokratischer Abgeordneter und Mitglied des institutionellen Ausschusses im Europaparlament, nicht. Dennoch hält Rothley eine Machtausweitung des Europaparlaments für unbedingt notwendig. Ob dadurch die versprochene Demokratisierung EG-Europas eingelöst wird, ist höchst zweifelhaft. Wäre es nicht sinnvoller, den bereits eingeschlagenen Weg der direkten Interessensvertretung systematisch auszubauen und solchermaßen einen Ausgleich zu schaffen zwischen Konsumenten-, Umwelt- und Industrieinteressen? Deren Vertreter haben sich auf EG-Ebene längst eingerichtet. Eine Aufwertung des Parlaments würde nicht viel ändern. Vorteile könnten nur die Volksvertreter daraus schlagen: Als Objekt kapitaler Begierde stünden sie dann im Rampenlicht — lang erhoffter Balsam auf ihre wunden Seelen.