: Vom Nachttisch geräumt: Ethnologischer Blick
1955 feierte Höchst — heute ein Stadtteil von Frankfurt/Main — sein 600jähriges Bestehen. Aus dieser Feier ging das jährliche Schloßfest hervor. Eva Maria Blum ist der Entstehung und der Entwicklung des Festes nachgegangen.
Sie zeigt, wie ein Weltunternehmen, der Chemiekonzern Hoechst AG, einen Stadtteil, eine Bevölkerung, eine Gemeindeverwaltung regiert. Sie zeigt es an einem winzigen Beispiel. Sie zeigt es kühl, mit Humor und einem ethnologisch geschulten Blick.
Wir werden Zeugen der Entstehung eines Rituals. Wir beobachten, wie ein Brauch entsteht, wie er begründet, wie er gemacht wird. Das Schloßfest unterscheidet sich funktional kaum von den Festen irgendwelcher Buschstämme. Es geht beim einen wie beim anderen um die Herstellung und Bestätigung von Gemeinschaft. Es geht um die Bereitstellung eines Erlebnisses, in dem die Gemeinschaft sich als solche erfährt. Wer glaubt, dergleichen könne nicht am grünen Tisch entwickelt werden, sondern müsse aus der Volksseele emanieren, den belehrt Eva Maria Blums Arbeit eines Besseren. Sie hat mit der Volksseele gesprochen. Die hat einen Terminkalender, lebt auf Spesen. Die Volksseele besteht aus einem Ausschuß, der Rechenschaftsberichte und Abrechnungen vorlegt. Man kommt ihr in Akten auf die Schliche.
Der Verdacht liegt nahe, daß es immer so war. Ein Theologe wird uns sagen, welche Ausschüsse wann und wo bei welchen Geschäftsessen die Abendmahlsfrage regelten.
Wer glaubt, die Gründerzeiten wären vorbei, heute entstünden keine Rituale mehr, der werfe einen Blick in Eva Maria Blums Buch, er wird seinen Irrtum erkennen.
Eva Maria Blum: Kultur, Konzern, Konsens — Die Hoechst AG und der Frankfurter Stadtteil Höchst. Verlag Brandes & Apsel, 311 S., einige S/W-Abbildungen, 39,80 DM.
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