: Wenn die Nabelschnur an der Flasche hängt
WissenschaftlerInnen haben herausgefunden, daß mütterlicher Alkoholismus zu erheblichen Schäden beim Embryo führt/ Die Alkohol-Embryopathie ist kein Tabu mehr/ In der alten Bundesrepublik werden jährlich 2.000 alkoholgeschädigte Kinder geboren ■ Von Susanne Billig
Vor ein paar Jahren war das Krankheitsbild kaum bekannt. Selbst KinderärztInnen griffen nicht selten zu drastischen Maßnahmen — Magendurchleuchtungen, Gewebeentnahmen aus dem Darm oder Hormonuntersuchungen —, um der Frage auf den Grund zu gehen, warum manche Kinder nie Appetit zeigten und so schlecht wuchsen. Inzwischen ist sie kein Tabu mehr: die Alkoholembryopathie. Sie entsteht, wenn ein sich entwickelnder Embryo ständig und in erheblichem Maße alkoholischen Einwirkungen ausgesetzt ist.
Eine Flasche Bier am Tag, so haben WissenschaftlerInnen festgestellt, schadet wahrscheinlich noch nicht. Drei Flaschen mit ihren drei mal 18 Gramm reinem Ethanol stellen die untere Grenze dar, ab der es zu einer Alkohol-embryopathie, auch „fetales Alkoholsyndrom“ genannt, kommen kann. Schnaps wirkt bei vergleichbarer Alkoholmenge schädlicher als Wein oder Bier.
30Prozent der Kinder sind untergewichtig
Alkohol ist „plazentagängig“, das heißt, er dringt bis zum Embryo vor. Aber dem fehlt in seiner Leber das abbauende Enzym „Alkoholdehydrogenase“. Untersuchungen zeigten, daß dieses Enzym in der Embryonalzeit nur zehn Prozent Aktivität im Vergleich zum erwachsenen Menschen aufweist. „Deshalb“, so schreibt Lothar Schmidt in dem Buch Alkoholkrankheit — Alkoholmißbrauch (Kohlhammer, 1986), „beeinflussen schon relativ geringe, vor allem aber permanent einwirkende Alkoholmengen den Prozeß der embryonalen Organogenese.“ Alkohol wirkt dann als Zellteilungsgift. Das Gewebe der betroffenen Kinder wird mit weniger Zellen angelegt, es ist „hypoplastisch“. Mehrere Faktoren spielen für den Schweregrad der Ausprägung eine Rolle: der Zeitpunkt des Alkoholkonsums, die Konzentration des Alkohols in den konsumierten Getränken, die Dauer der Einwirkung, unter Umständen auch das Entwicklungsstadium des mütterlichen Alkoholismus.
Etwa 30 Prozent der Kinder von nicht-trockenen Alkoholikerinnen werden zu früh geboren und sind untergewichtig. Insgesamt kommen in der (alten) Bundesrepublik schätzungsweise jährlich etwa 2.000 alkoholgeschädigte Kinder zur Welt. Die betroffenen Kinder fallen schon bei der Geburt durch ihr äußeres Erscheinungsbild auf: Sie sind meist sehr klein und wirken mager, weil das Unterhautfett nur ungenügend ausgebildet ist. Ähnlich wie das Äußere nicht immer und bei allen betroffenen Kindern auf die gleiche Weise verändert sein muß, entwickeln sich auch ihre motorischen und geistigen Fähigkeiten individuell, abhängig vom Schweregrad der Krankheit. Nicht immer treten alle Symptome gleichzeitig auf.
Viele Kinder tun sich mit der Feinmotorik schwer: mit dem Löffel essen, malen, Spielklötze ineinander setzen. Auch Motorik, Empfindlichkeit und Muskulatur des Mundes sind meist ungenügend ausgeprägt. Nicht selten ist aus anderen Gründen eine besondere Ernährung erforderlich, so daß Kau- und Schluckbewegungen von den Kindern nur unzureichend erlernt werden können. Das wiederum hat Folgen für die Sprachentwicklung, weil eine Vielzahl von funktionsfähigen Muskeln zur Lautbildung beitragen müssen. Außerdem müssen Kinder mit Alkohol-embryopathie zur Risikogruppe für Hörstörungen gezählt werden. Gut hören zu können, ist jedoch eine Vorbedingung dafür, daß ein Kind nachahmen und lernen kann. Bei der Sprachtherapie, die viele alkoholgeschädigte Kinder benötigen, muß nicht selten der Mund zuvor desensibilisiert werden. „Wenn man seinen Mund berührte“, so berichtet die Pflegemutter eines Jungen 1, „mußte er würgen oder sich sogar übergeben. Durch Lippen-, Mund- oder Zungenmassage, immer vor dem Essen, wurden der Mund und die Zunge unempfindlich gemacht.“ Erst danach konnte der Junge breiige Nahrung zu sich nehmen und auch beginnen, mit dem Mund Laute zu formen.
Kinder wollen tagelang nichts essen
Diese Art der Überempfindlichkeit tritt nicht nur im Mund auf. Manche Kinder empfinden eine Abscheu davor, bestimmte Dinge an ihre Haut zu lassen, wie Sand, Badeschaum oder Lebensmittel. Andere lehnen sogar Körperkontakt ab.
Nicht essen zu wollen, ist ein Problem der meisten alkoholgeschädigten Kinder. Ein Hungergefühl fehlt oft, manche Babies müssen mit einer Magensonde künstlich ernährt werden. Auch später können die Kinder manchmal lange ohne Nahrung sein, was für die Eltern, bei denen sie aufwachsen, oft schwer zu akzeptieren ist. „Als Tini zweieinhalb Jahre alt war“, beschreibt eine Pflegemutter den Kampf ums Essen 1, „sagte uns ein bekannter Kinderarzt, daß wir mit der Zwangsernährung aufhören sollten. Endlich sagte einmal jemand etwas anderes, als ,Sie müssen das Kind zum Essen zwingen‘. Dieser Arzt machte uns klar, daß Tini nicht verhungern würde, auch wenn sie einmal drei Tage lang überhaupt nichts ißt [...] Es war eine Erlösung für die ganze Familie. Allerdings kam es noch öfter vor, daß Tini drei Tage lang gar nichts aß, bevor ich sagen konnte: ,Essen? Nein, damit haben wir keine Probleme.‘“
Hyperaktivität gehört neben einem Hang zur „Distanzlosigkeit“ — ein problematisches Merkmal zwischen Aufdringlichkeit und Aufgeschlossenheit — zu den häufigsten Verhaltensauffälligkeiten bei alkoholgeschädigten Kindern. Ihr zugrunde liegt wahrscheinlich eine Störung im Stoffwechsel der „Katecholamine“, zu denen auch das Adrenalin gehört. Solche Kinder können nicht lang stillsitzen, sind ständig aufgedreht, spielen den „Klassenkasper“ und müssen sich einfach bewegen. Der unstillbare Drang nach Beschäftigung richtet sich mal hierhin, mal dorthin. Das Kind will lesen, fernsehen, spielen, und nichts davon lange. Es leidet darunter, sich zwischen mehreren Angeboten nicht entscheiden zu können. Oft folgen der Quirligkeit Schlafstörungen. „Christel war hundemüde, hinderte sich aber selbst durch ihre Zappeligkeit am Einschlafen. Wenn ich sie mit Gewalt so fest hielt, daß sie sich nicht mehr rühren konnte, war sie in fünf Minuten eingeschlafen“, erzählt eine Mutter1. Manche Eltern greifen in ihrer Verzweiflung, vor allem, wenn die Kinder älter werden und sich nach zwei, drei Stunden Schlaf wieder fit fühlen, zu Schlafmitteln — ein Kreis schließt sich.
Fröhliche, unbekümmerte Verhaltensweisen
Im Sozialverhalten zeichnen sich die Kinder durch eine in unserer Gesellschaft nicht unbedingt häufige Kombination an Eigenschaften aus: „Insgesamt sind depressive Grundstimmungen nicht gehäuft, eher überwiegen bei Kindern mit Alkohol-embryopathie gehobene Stimmungen mit fröhlichen, lebensbejahenden, unternehmungslustigen und eher unbekümmerten Verhaltensweisen. Die Kinder sind in der Regel kontaktfreudig, gehen auf Spielkameraden und fremde Menschen meist umsichtig, mitteilsam, aufgeschlossen und unbekümmert zu, zeigen sich wenig eigensüchtig im Geben und Nehmen und unterscheiden sich daher im Sozialverhalten nicht wesentlich von anderen Kindern.“1
Hilfestellung für Pflege-, Adoptiv- und leibliche Eltern mit alkoholgeschädigten Kindern bietet die „Elterninitiative alkoholgeschädigter Kinder“. Für die Elternberatung ist Beate von Knappen zuständig, Von- Graefe-Str. 44a; 4330 Mühlheim an der Ruhr, Tel.: 0208-430747.
1 Ratgeber Alkoholschäden bei Kindern — Ratgeber zur Alkohol-embryopathie. Lambertus Verlag 87.
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