: Maultier bleibt Maultier
Neue algerische Literatur ■ Christoph Burgmer
Das Maultier ist halb Pferd, halb Esel. Als Eigenschaft werden ihm Belastbarkeit und Zähigkeit zugeschrieben. So ist es in vielen prämotorisierten Gesellschaften Last- und Transportmittel zugleich. Tritt es jedoch in Konkurrenz zum industriellen Geschwindigkeits-Overkill muß es irritiert seinen Platz räumen, zumal es als Zuchtergebnis des Menschen selbst nicht geschlechts-, und damit nicht fortpflanzungsfähig ist. Hadschi Cayenne und Tombeza sind menschliche Maultiere in zwei algerischen Romanen von Tahir Wattar und Rachid Mimouni. Irritierte, geschlagene Maultiere, konkurrierend mit der eingebrochenen Moderne. Sie versuchen sich gewaltsam ihre Erinnerung zu erhalten. Die Erinnerung an ein Leben, das bestimmt wurde vom Aufeinanderprallen kolonialeuropäischer und arabischer Kultur, das sie kapriolenschlagend zwischen Moderne und Tradition, Hoffnung und Enttäuschung hin und her warf. Und das zuletzt zwei Outcasts zurückgelassen hat, deren zynischer Blick auf die eigene Gesellschaft nur noch vereinbar ist mit resignativer Kritik.
Kritik an einer Gesellschaft, die geprägt ist von Käuflichkeit und Korruption, von der Gewalt des Staates und dem Überlebenswillen des Einzelnen, einem Algerien, in dem die französischen Kolonialherren gegen eine bestechliche Bürokratie ausgetauscht wurden. Eine Welt, der Hadschi Cayenne, dessen Name durch seine Verbannung als noch junger Mann in die französische Strafkolonie nach Französisch-Guyana entstand, nur durch Haschischträume entkommen kann. „Die Welt, in der ich lebe, erschreckt mich. Eine Welt des Elends und der Ungerechtigkeit, in der Autos, Paläste und schöne Mädchen den Reichen vorbehalten sind. Alles, was ich besitze, ist das siedende Blut.“
Hadschi Cayenne taucht ein in die arabische Geschichte und Mythologie, nimmt die mittelalterliche islamische Diskussion über den idealen Staat und das ideale Regieren wieder auf. Er wagt anzuknüpfen, zu verbinden und denkt wie nebenbei über die islamische Männerwelt nach. „Halt! Vielleicht ist es gar kein Widerspruch: wir betrachten die Frau eben als Ware. Entweder wartet sie, eingeschlossen und eifersüchtig gehütet, auf den Bewerber, der das günstigste Angebot macht; oder sie steht, untergebracht in einem öffentlichen Haus, neben Moscheen oder anderen Gotteshäusern, jedem zur Verfügung. Hier Verkauf en gros, dort Verkauf en detail!“ Doch es sind gerade die prostituierten Frauen, die sein Leben als Zuhälter eines Großstadtbordells, und somit auch seine Haschischträume, finanzieren.
Anders dagegen Tombeza, der Namenlose. Nach einem Unfall im Krankenhaus liegend, wird sein Leben zu einer undurchsichtigen Erinnerung. Zu einer Erinnerung an eine Abfolge von nicht beeinflußbaren Ereignissen, die bestimmt sind durch „Verordnungen, Gesetze, Hinweise, Verfügungen, Untersagungen, Bekanntmachungen, Rundschreiben, wo eine Verordnung die andere präzisieren müßte, ihr jedoch statt dessen gänzlich widerspricht.“ Dennoch verfolgt er zurück, hält die algerische Geschichte mit seiner eigenen fest, löst langsam auf, was schon kurz vor dem Sterben steht. Als uneheliches Kind geboren zu sein, ist seine lebenslange Behinderung, die Folge eines Verstoßes seiner Mutter gegen die kulturelle Konvention. Sie zwingt ihn, sich denen gefügig zu machen, die einen Namen haben. Es sind die Mächtigen, französische Großgrundbesitzer, Widerstandskämpfer und korrupte Bürokraten, die ihn benutzen und fallenlassen. Der Namenlose findet seine Sprache in der Realität. Übrig bleibt, daß sich nichts Eigenes festhalten läßt außer dem Zynismus. „Und plötzlich, ganz unvermittelt, wird das Schluchzen zu einem überquellenden inneren Gelächter. Es hat genügt, mich an diese Geschichte zu erinnern, die auf dem besten Wege war, Züge eines überdimensionalen Kasperletheaters anzunehmen. So viel Lärm und Getöse. So viel Aufregung.“
Die beiden Autoren Tahir Wattar und Rachid Mimouni sind längst keine Unbekannten mehr und weit über die Landesgrenzen hinaus, besonders in Frankreich, bekannt. Sie stellen ein Stück algerischer Gegenwartsliteratur vor, die sich immer wieder mit den Outsidern, mit den in die Strudel gewaltsamer Veränderungen Geratenen beschäftigt. Vor dem Hintergrund islamischer Geschichte und Kultur wird die Frage nach dem Jetzt und Heute gestellt, nach persönlicher Geschichte und Identität. Und dies nicht in der ästhetisierenden Form arabisch-traditioneller Poesie, sondern in spannenden, phantasievollen Geschichten, deren Hintergründe die Verwobenheit zwischen Europa und arabischer Welt deutlich machen. Der Einblick ist nicht das Eintauchen in eine idealisierte orientalische Vorstellung. Es ist die schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, in die Europa wesentlich eingegriffen hat. Wer sich über Pauschalisierungen zur arabisch-islamischen Kultur hinwegsetzt, findet Überraschendes.
Die algerische Gesellschaft von heute ist der Focus beider Romane. Und da, wo das ökonomische und kulturelle Nirwana droht, stehen Hadschi Cayenne und Tombeza gegen das Vergessen, auch das europäische, auf. Die Maultiere schreien, sie schreien, weil sie etwas zu verkünden haben: die Maultierhochzeit!
Und ganz am Rande wird deutlich, daß die algerische Gegenwartsliteratur einen festen Platz beim deutschen Publikum beanspruchen kann.
Tahir Wattar: Maultierhochzeit. Aus dem Arabischen von Helga Walter. Edition Orient, 157 S., 24,- DM.
Rachid Mimouni: Tombeza. Aus dem Französischen von Bernhard Thieme. Rotbuch Verlag, 296 S., 34,- DM.
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