: ABENTEUER ARMUT
■ Das größte Elendsviertel Lateinamerikas, "Rocinha", und die älteste Favela von Rio, "Morro da Providencia", werben um Touristen
Das größte Elendsviertel Lateinamerikas, „Rocinha“, und die älteste Favela
von Rio, „Morro da Providencia“,
werben um Touristen
VonAstridPrange
Rio de Janeiro. Armut hautnah. Schäbige Holzhütten, überbordende Müllhalden, im Dreck spielende Kinder und stinkende Abwasserkanäle unter freiem Himmel sind im kommenden Sommer die neue Besucherattraktion von Rio de Janeiro. Nach dem Elendsviertel „Rocinha“ hat nun auch die älteste Favela von Rio, „Morro da Providencia“, das Geschäft mit den Touristen entdeckt. Und nicht nur das: Die „Favela-Tour“ soll das hartnäckige Vorurteil aus der Welt schaffen, daß in den rund 500 Elendsvierteln von Rio nur Banditen und Drogenhändler hausen.
„Die Neugierde, eine Favela einmal von innen kennenzulernen, hat jeder Tourist, der den Zuckerhut besteigt und die Elendsviertel an den Hügeln kleben sieht“, meint Luis Carlos Batista, Vorsitzender der Sambaschule von „Rocinha“ und Anreger des Projekts. Schließlich wohnt rund ein Drittel der sechs Millionen Einwohner Rios in Favelas. Batista konnte die rund 25.000 Einwohner von „Rocinha“, der größten Favela Lateinamerikas, für seine Idee begeistern. Die Zusammenarbeit mit den Touristen wird von einem Reisebüro in Rio organisiert und soll im Januar beginnen. Die Angst, in der Favela mehr als den Eintrittspreis von 15 Mark lassen zu müssen, sei unberechtigt, versichert Batista, denn die Führung wurde von Einheimischen übernommen.
Das Abenteuer beginnt mit einer Fahrt zum höchsten Punkt von „Rocinha“ im Kombi der Sambaschule. Oben angekommen, eröffnet sich einem eine atemberaubende Aussicht aufs Meer und den „Corcovado“ und natürlich auf die endlose Favela selbst, die bereits die andere Seite des Hügels hinunterkriecht. Danach geht es zu Fuß ins Labyrinth aus engen Gassen und verschachtelten Dächern. Im Inneren der Favela herrscht starker Verkehr: Junge Männer schieben im Eiltempo Lebensmittel und Getränke in Schubkarren den Hügel hinauf. Die Ausweichmöglichkeiten erschrockener Fußgänger sind begrenzt, denn fast in jeder Ecke liegt ein Sandhaufen oder dreht sich ein Zementmischer: „Rocinha“ ist eine permanente Baustelle.
In der Favela „Morro da Providencia“ geht es ruhiger zu. Die 1897 entstandene Armensiedlung mitten im Stadtzentrum beherbergt nur rund 4.000 Einwohner. Die 180 Meter lange „Favela Tour“ führt zu der noch von Sklaven erbauten und mittlerweile unter Denkmalschutz stehenden Kirche „Nossa Senhora da Penha“. Von dort aus haben die Besucher einen Blick auf die Bucht von Guanabara und den Hafen von Rio, das historische Stadtzentrum und den Zuckerhut sowie den „Sambódromo“, wo im Februar die großen Karnevalsumzüge stattfinden. Höhepunkt der Führung ist eine gemeinsame „Feijoada“, ein brasilianisches Nationalgericht aus schwarzen Bohnen und verschiedenen Fleischsorten, in der Kinderkrippe. Zum Abschied bekommen alle ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich habe die älteste Favela von Rio besucht“ geschenkt.
Die Idee, mit Führungen für Touristen die finanzielle Situation vom „Morro da Providencia“ aufzubessern, bekam der Vorsitzende der Anwohnervereinigung, Manuel Simoes, im Gespräch mit argentinischen Touristen, die sich sowohl von der Aussicht der „Providencia“ als auch vom Organisationstalent seiner Einwohner beeindruckt zeigten. „Ich habe bereits Kontakt mit einem Reisebüro aufgenommen, das die Favela-Tour als Paket vermarkten wird“, erklärt Simoes. Die Firma „BTR Turismo“ werde sich um den Transport kümmern und Dolmetscher engagieren. „Für die Favela bleiben pro Person etwa sieben Dollar übrig“, schätzt Simoes. Mit den Einnahmen soll der Unterhalt der Kinderkrippe finanziert werden.
Es sieht ganz so aus, als ob die beiden Favelas der Superlative vom Januar 1992 an miteinander konkurrieren werden. „In ,Rocinha‘ gibt es außer dem Meer nichts zu sehen“, meint Manuel Simoes, Vorsteher der „ältesten Favela Rios“, abschätzig. — „Dieses Projekt existiert nur auf dem Papier, die Favela ist zu klein“, kontert Luis Carlos Batista aus „Rocinha“, der „größten Favela Lateinamerikas“.
Gemeinsam ist jedoch beiden Favela-Vertretern, ein für allemal den schlechten Ruf der Elendsviertel aus der Welt zu schaffen. Batista: „Die Zeiten, in denen ,Rocinha‘ mit dem Maschinengewehr regiert wurde und die Bevölkerung für Drogenboß Denis auf die Straße ging, sind vorbei.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen