: Poesie ohne Worte
Ein Gespräch mit dem türkischen Sufi-Musiker Kudsi Erguner über die Musik des Orient, die mystische Tradition des Islam und die Klänge der Frömmigkeit ■ Von Christoph Wagner
Das grobe Wollgewand war ihr Erkennungszeichen. Von der Wolle („suf“) haben die Sufis auch ihren Namen. Sie waren moslemische Fromme, die den Buchstaben der heiligen Gesetze des Korans bis ins kleinste Detail erfüllten, die beteten, fasteten und wenig schliefen. Sie hatten „diese Welt verlassen“, wie es ein Theoretiker des zehnten Jahrhunderts ausdrückte. Durch ekstatische Praktiken begaben sie sich in mystische Zustände, um sich mit dem Göttlichen zu vereinigen. Aus diesem Grund wird das Wort „Sufismus“ heute allgemein als Sammelbegriff für die Mystik des Islam verwendet.
Mystische Musikkonzerte halfen ihnen dabei, derart in Verzückung zu geraten, daß sie um die eigene Achse zu wirbeln begannen. Der Meslewi- Orden — er geht auf Mewlana Dschalaluddin Rumi (1207-1273) zurück — ist die einzige Sufi-Gemeinschaft, welche die kreisenden Tanzbewegungen institutionalisiert hat. In Europa sind die Mitglieder dieser Bruderschaft deswegen als „tanzende Derwische“ bekannt. Das Ritual der Mewlewi-Derwische wurde, wie die Rituale der anderen Orden auch, in der Türkei 1925 von Atatürk verboten. Seit 1954 darf der religiöse Ritus am Todestag von Rumi (17.Dezember) wieder vollzogen werden, wenn auch nicht im Zentralheiligtum.
Kudsi Erguner gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der türkischen Sufi-Musik. Er stammt aus ener alten Musikerfamilie, die diese Tradition seit Generationen pflegt. Sein Instrument ist die lange Schilfrohrflöte Ney. Schon in seiner Jugend spielte er bei den Zeremonien der Derwische an der Seite seines Vaters Ulvi Erguner, der in der Türkei als einer der letzten großen Meister der Ney-Flöte galt, und dessen Vermächtnis er heute weiterführt. Kudsi Erguner hat zahlreiche Schallplatten veröffentlicht und ist mit seiner Konzerttätigkeit international in Erscheinung getreten. Er ist diplomierter Musikologe und Architekt und lebt heute in Paris.
taz: Sie spielen die Musik der Sufis. Das ist geistliche Musik, das sind mystische Klänge. Was ist der religiöse, historische und kulturelle Hintergrund dieser Tradition? Was ist Sufismus?
Kudsi Erguner: Zuerst ist wichtig zu wissen: Sufismus ist kein Ismus. Es hat Sufis gegeben und verschiedene Traditionen, die aus ihrer Lebensweise hervorgegangen sind. In der Frühzeit des Islam gab es eine Vorstellung vom Glauben, die völlig ohne Zweifel war: sehr einfach und sehr stark. Mit der Zeit ergaben sich aber Unterschiede im Verständnis der Glaubensinhalte, und Fragen kamen auf. Die Antwort einiger Leute auf diese Frage war eine Lebensweise, die allem Irdischen entsagte. Die ersten Sufis versuchten, den Islam in seiner reinen Form zu leben. Sie empfanden es als das höchste Glück, völlig frei von allen weltlichen Dingen zu sein. Obwohl sie in den Städten lebten, waren sie an den Dingen um sie herum nicht interessiert. Ihre Gedanken waren allein auf Gott und das Beten konzentriert. Ihr Lebensstil machte sie zu wundersamen Leuten. Sie wurden zu Legenden, zu Sufi-Heiligen. Ihre Lebensweise beeinflußte viele Menschen. Sie begründeten eine Tradition, die viele spirituell anzog — in der Art, die Welt zu sehen. Diese Heiligen hatten aber keine Doktrin. Die Doktrin war der Koran, das Buch des Islam, worin die Botschaft von Gott offenbart ist, vergleichbar dem Evangelium. Jenseits dieser allgemeinen Grundlage gibt es also nicht den einzig wahren Weg. Was es gibt, sind verschiedene Formen der Interpretation. Jeder Sufi-Meister war die Inspiration eines neuen Weges — in der Art des Betens, in der Zeremonie, in der Musik, in der Literatur. Deswegen kann man nicht von Sufismus sprechen, nur von Sufis.
Sie entstammen der Tradition der Mewlewi-Sufis, einem Orden, der von Mewlana Dschalaluddin Rumi im 13.Jahrhundert gegründet wurde. In Europa kennt man diese Bruderschaft als „tanzende Derwische“.
Zuerst bin ich Mewlewi, aber ich habe auch Kontakt zu anderen Gruppen. Die Mewlewi-Sufis werden als „tanzende Derwische“ bezeichnet, weil sie den europäischen Orient- Reisenden des 19.Jahrhunderts als erste auffielen: sich drehende, wirbelnde Menschen bei einer religiösen Zeremonie. Man tanzt, indem man sich um sich selbst dreht. Das ist allerdings eine oberflächliche Bezeichnung, weil sie nichts vom Sinn dieser Handlung widergibt. Sie artikuliert nur einen ersten Eindruck.
Musik und Tanz nehmen in den Sufi-Zeremonien eine wichtige Rolle ein. Welche Funktion haben sie?
Ganz zu Anfang gab es keine spezielle Sufi-Musik. Es gab nur Musik, die von den Sufis geschätzt wurde. Diese Musik wurde von ihnen weiterentwickelt. Man kann also nicht sagen, daß es eine spezielle Art gibt, wie Sufis Musik machen. Allerdings gibt es eine spezielle Art, wie Sufis Musik hören. Sie holen aus der Musik keinen oberflächlichen Spaß heraus, kein schnelles Vergnügen, keine Unterhaltung. Sufis versuchen vielmehr, in der Musik eine tiefere Freude zu finden. Und die Tiefe rührt aus der Tatsache her, daß die Musik die Funktion hat, die Person bewußt zu machen für die eine Wirklickeit Gottes. Aus diesem Grund hat Musik für die Sufis eine große Bedeutung, es geht um die Berührung mit dem Spirituellen, um das Finden von Gott in der Ekstase. Es gibt bei religiösen Moslems allerdings auch die Auffassung, daß Musik etwas schlechtes ist, das es erst gar nicht geben sollte. Rumis Sohn hat diesen Leuten geantwortet: „Wenn ich die Ney-Flöte oder die Kemantsche-Geige höre, bin ich voller Freude, weil ihr Klang sich für mich anhört, als ob sich die Tür des Pardieses öffnet.“ Die frommen Muslime entgegneten: „Wir können dieses Geräusch nicht hören. Warum hören wir es nicht?“ Worauf Rumis Sohn antwortete: „Doch, ihr könnt es hören! Allerdings nicht, wenn die Türe des Paradieses sich schließt.“ Das ist nur eine kleine Geschichte, die aber deutlich macht, wie wichtig es für Sufis ist, sensibel für die Klänge der Musik zu sein. Wir glauben, daß alle Geister, die durch die Musik geschaffen werden, auf die Frage Gottes, ob sie wissen, daß er ihr Meister ist, mit „Ja“ antworten. Das ist wie ein Versprechen. Dieses „Ja“ macht einen Laut, der uns immer, wenn wir Musik hören, an dieses Versprechen erinnert.
Deswegen ist Musik ein fester Bestandteil der religiösen Handlungen?
Für den Mewlewi-Orden ist die Rolle der Musik genau festgelegt. Ab dem 13. und 14.Jahrhundert wurde der Tanz, diese wirbelnde Bewegung, wie sie Rumi machte, zu einem Bestandteil der Zeremonie. Es wurden Kompositionen geschrieben, sehr hochentwickelte Werke mit einem festgelegten Verlauf der Melodie, welche die verschiedenen Momente der Zeremonie begleiteten. Andere Bruderschaften haben, basierend auf der Sufi-Poesie, Stücke komponiert, die dann an bestimmten Stellen der Zeremonie gesungen wurden. Es gibt also ein breites Repertoire von Musik, das aus dieser Tradition stammt.
Haben diese religiös inspirierten Klänge die klassische Musik der Türkei beeinflußt?
Die Herrscher des osmanischen Reiches waren sehr kunstsinnig. Viele waren Dichter, manche Musiker und Kalligraphen. Die meisten waren Schüler eines Sufi-Meisters. Die Mewlewi-Tradition hatte im 16. und 17.Jahrhundert einen großen Einfluß auf die Kultur des Osmanischen Reiches, weil viele Sultane Anhänger der Mewlewi-Gemeinschaft waren. Zum Beispiel war ein Sultan des 17.Jahrhunderts ein großer Ney-Flötenspieler, er spielte auch die Tanbur-Laute, komponierte Musik für die Zeremonien und verbrachte viel Zeit bei den Derwischen. Dadurch wurde die klassische Musik der Türkei, also die gesamte Musikliteratur der osmanischen Periode, stark von diesem Sufi- Geschmack beeinflußt, von diesem speziellen Blick auf die Dinge.
Die Musik des Orients basiert auf einem System, das sich sehr stark vom Konzept europäischer Musik unterscheidet. Wo liegen die Differenzen?
Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Formen von Musik. Auf der einen Seite das temperierte System, wie es in Europa zu Hause ist, das letztendlich auf mathematischer Forschung beruht. In dieser Musik geht es darum, etwas Großes, Symphonisches, Polyphones zu schaffen. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit der nicht temperierten Musik. Die Musik, die daraus entsteht, ist natürlicher, möchte den Zuhörer berühren. Wir arbeiten mit Melodiezügen, Tonebenen, Zentraltönen und Intervallen. Aus diesen Elementen besteht ein Makam. Am wichtigsten ist aber: wir wollen — in reinster Form — die Melodie hören. Es ist wie ein Gespräch. Die Melodie ist wie Sprechen, Poesie ohne Worte. Sie haben ihren eigenen Rhythmus, ihre Spannung, ihren Sinn. Es gibt Fragen und Antworten. Es ist eine ganz andere Ästhetik.
In der Sufi-Musik gibt es auch das Element der Improvisation, Taksim genannt.
Es existiert ein Wissen über charakteristische Melodien und über die Improvisation darüber. Indem man improvisiert, schafft man eine neue Komposition. Auch bringt man seinen eigenen Geschmack, seine Auffassung und sein Verständnis des betreffenden Makams zum Ausdruck. Man muß den Makam dafür sehr genau kennen. Erst wenn man ihn verinnerlicht hat, kann man darüber improvisieren. Es ist weniger eine Frage der Technik. Es funktioniert eher wie bei einem Parfüm: man muß die Dosierung kennen, man muß wissen, wie man es zusammenmischt.
In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts war die Sufi-Musik starken Repressionen ausgesetzt. Woraus resultierten diese Schwierigkeiten?
Das 20.Jahrhundert war in der orientalischen Welt eine Reaktion auf das 19.Jahrhundert und die Jahrhunderte davor. Es gab Bestrebungen, reinen Tisch zu machen, die Erinnerung an die Vergangenheit auszulöschen. Man wollte die Religion — den Islam — loswerden, man wollte alle damit zusammenhängenden künstlerischen Äußerungen loswerden. In vier oder fünf Jahren, von 1925 bis 1930 etwa, wurde eine ganze Gesellschaft — die türkische — total umgekrempelt: die Schrift, die Buchstaben, die seit Jahrtausenden in Gebrauch waren, die Kleidung, die Sprache, die soziale Struktur, die Religion — alles! Eine gigantische Explosion, vielleicht noch größer als die Kulturrevolution von Mao. Es war ein furchtbarer Schock! Den Sufis wurde über lange Jahre die Religionsausübung verboten, auch die Musik. Wenn man auch nur die Ney-Flöte spielte oder die Ud-Laute oder die Kemantsche-Geige, oder wenn man ein Lied aus der Vergangenheit gesungen hat, galt man schon als antirepublikanisch. Totale Paranoia!! Ich habe die Unterdrückung hautnah erfahren, weil mein Großvater und mein Vater Sufi-Musiker waren. Es geschahen häßliche Dinge, und bis heute kann man in der Türkei dieses Problem nicht offen ansprechen. Es ist schrecklich, denn wir müßten dringend darüber reden. Ich halte es schlicht für ein Verbrechen, die Erinnerung eines Volkes, seine Kultur, zu vernichten. Das ist genauso schlim wie wenn man es physisch vernichtet. Und in der Türkei geschah genau das. Wie kann man eine Nation schaffen, ohne zu wissen, wer man ist, was man ist, was unser Glaube ist, was unsere Ideale sind? Daraus resultiert eine große Leere, ein gefährliches Vakuum der Identitätslosigkeit. Die Leute befinden sich nirgends, sie sind orientierungslos. Das betrifft nicht nur die Türkei, sondern alle Staaten des Orients.
Ihr Vater versuchte die Tradition der Sufi-Musik am Leben zu erhalten?
Heutzutage ist es sinnlos geworden, gegen die Verwestlichung anzukämpfen. Sie ist schlichte Realität. Aber auch wenn wir uns wie Europäer benehmen, können wir doch wenigstens unser kulturelles Erbe retten. Man braucht es ja gar nicht zu schätzen, um einzusehen, daß es bewahrungswürdig ist. Mein Vater lebte im Dissens mit seiner Zeit. Als musikalischer Direktor des Rundfunks versuchte er, dieses Medium im Sinne der Traditionsbewahrung zu nutzen. Er übertrug zahlreiche alte Kompositionen in westliche Notenschrift, um auch der jungen Generation die Chance zu geben, diese Musik zu spielen. Er gab Musikern im Rundfunk Arbeit, da Konzerte verboten waren und es keine anderen Auftrittsmöglichkeiten gab. Er tat sein Möglichstes, um die Musik zu erhalten. Die Radiodirektion machte ihm Schwierigkeiten, man beschuldigte ihn, ein Fortschrittsfeind zu sein. Bis heute ist das ein heikler Punkt. Wenn man zum Beispiel Ney- Flöte spielt, gilt man immer noch als rückschrittlich, weil diese Flöte eng mit der alten Sufi-Tradition verbunden ist.
Die Flöte Ney hat einen großen Stellenwert in der Musik der Sufis?
Sie kommt schon in der Poesie von Rumi vor. Er vergleicht die Ney mit einem menschlichen Wesen. Wenn man sie herstellt, muß das Innere der Flöte von Holzresten gesäubert werden. Man brennt sie deshalb mit einem glühenden Metallstab aus. Für Rumi ist der Mensch in derselben Situation. Es kommt für ihn ebenfalls darauf an, sich innerlich von Dingen zu befreien, die blockieren. Man muß sich bereit machen für die Inspiration. Für Rumi sind die Löcher der Flöte, mit denen man die Melodien produziert, vergleichbar mit den menschlichen Sinnen. Durch die Nasenlöcher, Ohren, Augen und Mund erkennt man die Schöpfung um sich herum als etwas Wunderbares, etwas Harmonisches. Mit den Löchern der Flöte, die man schließt und öffnet, schafft man ebenfalls etwas Harmonisches: Töne, Klänge, Melodien. Deswegen glauben die Sufis: der Msnsch ist eine Flöte in der Hand Gottes.
Diskographie:
Kudsi Erguner: Sufi Music of Turkey , CMP-Records 3005
Kudsi Erguner/Nezih Uzel: Turquie: Musique Soufi , Ocora 558522
Sufi-Konzert mit Kudsi Erguner und einem großen Ensemble mit zwanzig MusikerInnen: Dienstag, 10.Dezember; Metz/Frankreich (Arsenal)
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