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Wider das Vergessen

■ Lanzmanns Film vom Unheil: „Shoah“ in West3

„Shoah“ ist ein hebräisches Wort und heißt so viel wie „großes Unheil“, Shoah von Claude Lanzmann ist ein neuneinhalbstündiger Film über die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis, neuneinhalb Stunden, in denen das Grauen des Holocaust lebendig wird, obwohl keine Photos von ausgemergelten Körpern, Leichenbergen, Gaskammern und Massengräbern zu sehen sind. Lanzmann beschränkt sich auf Orte der Gegenwart und Gespräche mit Zeugen, Opfern und Tätern von einst. Doch nicht obwohl, sondern weil der Film „nicht polemisch, nicht einmal aggressiv“ (Lanzmann) ist, gelingt es ihm mit diesen sparsamen Mitteln, dem Schrecken eine filmische Form zu geben, die ihn auf geradezu brutale Art gegenwärtig werden läßt. Bisweilen sind auch die Methoden, derer sich Lanzmann zu diesem Zweck bedient, nicht ohne Brutalität. Daß er Täter heimlich filmt oder sich um seine Zusage der Anonymität einen Dreck schert, bedarf keiner Rechtfertigung. Weit schwerer erträglich ist hingegen, daß Lanzmann auch die Opfer nicht schont, ihre verzweifelten Bitten, die Kamera abzustellen, ignoriert und immer neue Fragen stellt, weiterbohrt.

Doch seine selbstbeherrschte „Brutalität“ hat freilich Methode. Claude Lanzmann geht es in Shoah nicht um die Dokumentation schmerzhafter Erinnerungen, Mythen und Legenden, zu denen auch die Opfer das Unaussprechliche „verformt“ haben. Ebenso wie es ihm gelingt, jene Orte des Schreckens, über die inzwischen vielfach im wahrsten Sinne des Wortes Gras gewachsen ist, mit Hilfe der Zeugen dem Vergessen zu entreißen, läßt er durch deren unvermittelte Konfrontation mit diesen Stätten des Todes das Grauen jener Tage in Worten, Stimmen und Gesten wieder lebendig werden. Und diese Negation von Geschichte im Sinne von „Vergangenheit“ macht Shoah auch für die Zuschauer zu einer Tortur, der mit wohlfeilen Betroffenheitsfloskeln nicht zu entkommen ist.

Zwölf Jahre hat Lanzmann an diesem Film gearbeitet. Nach Abschluß der Dreharbeiten lagen 350 Stunden Material vor. Fünf Jahre brauchte er, um aus der Fülle des Matreials jenen Film zu schneiden. Als Shoah im März 1986 hierzulande nach der — im Gegensatz zu Frankreich und den USA — äußerst mageren Kinoauswertung in allen Dritten Programmen der ARD zu sehen war, erregte er zwar einiges Aufsehen bei der Kritik, aber Lanzmanns hehrer Wunsch, „daß der Film für die Deutschen wie eine Befreiung“ sein würde, erfüllte sich keineswegs. Ganze zwei Prozent der Zuschauer waren bereit, sich diesem radikalen Anschlag auf die „Gnade der späten Geburt“ auszusetzen. Doch Gründe für die Wiederholung von Shoah gibt es in diesen Tagen wahrlich genug. Reinhard Lüke

„Shoah“ in West 3: Erster und zweiter Teil, heute, 20.00 Uhr und 22.45 Uhr, die Teile 3 und 4, Freitag und Samstag, jeweils um 22.30 Uhr.

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