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Bei jedem Blick erröten die jungen Soldaten

■ Wenn sowjetische Militärs und Deutsche Weihnachten feiern.../ Die einen schweigen, die anderen unterhalten sich selbst

Karlshorst. Hanni Simon ist glücklich. Mit einstündiger Verspätung kommen endlich die ersehnten Gäste, vier französische und vier britische Soldaten. Die Amerikaner sind nicht dabei, ein Wermutstropfen, dafür ein hochdekorierter Bundeswehroffizier. Etwas verlegen betreten die verspäteten Gäste das ungewohnte Terrain: die Offiziersmesse der sowjetischen Streitkräfte in Karlshorst. Eine Weihnachtsfeier in »Harmonie und Freundschaft« soll hier auf Initiative des Deutsch-Sowjetischen Klubs stattfinden, eine Feier, die wie Klubleiterin Hanni Simon hofft, »harmonisch wird, genauso wie zu Hause im Kreis der Familie«. Die Soldaten werden zu einem freigehaltenen Tisch geleitet, dort erwartet sie der Verteidigungsattaché der sowjetischen Botschaft, Oberst Wladimir Ponomarjewo. Er ist in Zivil. Schräg gegenüber, aber voneinander getrennt durch den Mittelgang, sitzen die heimlichen Hauptpersonen des Abends. Etwa zwanzig einfache sowjetische Soldaten, furchtbar verschüchtert, die Röte kriecht ihnen bei jedem Augenkontakt ins Gesicht. Um so lebhafter ist das Gewispere drumherum. An den langen Tischen sitzen um hundert Angehörige von in Karlshorst stationierten Offizieren und etwa fünfzig deutsche Gäste. Die Ordensträger selber wurden von Frau Simon um die wenigen »Vips« placiert. Neben dem Pressesprecher des Neuköllner Bezirksamtes ein Oberst, neben einem verdienten Kämpfer gegen den Faschismus ein Oberstleutnant, neben einem Vertreter des Roten Kreuzes zwei Fähnriche.

Die Weihnachtsfeier im adventlich geschmückten Casino kann beginnen. Sie steht unter einem Motto. Weihnachtsbräuche in Deutschland und orthodoxen Rußland. Und weil man Harmonie nicht üben kann, sagt Frau Simon »lassen wir unser vorbereitetes Programm jetzt spontan ablaufen«. Der Bundeswehroffizier und der Verteidigungsattaché sind bereits tief in eine unüberhörbare Konversation verstrickt. Die einfachen sowjetischen Soldaten schweigen. Der Höhepunkt der deutschen Weihnacht, das »Musizieren der deutschen Familie vor der Krippe«, geht in allgemeiner Unruhe unter.

Auch Hanni Simon, die Seele der deutsch-sowjetischen Freundschaft in Karlshorst, ist verwirrt ob der heiligen deutschen Weihnachtsbräuche. Sie drängt auf eine Fortsetzung des Programms. Eine Sechsjährige hat im Kindergarten ein Lied einstudiert, Laßt uns froh und munter sein. Beifall. Eine Russin spielt die Balaleika. Beifall. Drei Russinnen singen ein Weihnachtslied. Beifall. Und zwei russische Fünfjährige, beide sorgsam herausstaffiert, präsentieren einen Tanz. Ganz langsam bewegen sich die beiden Miniaturerwachsenen und die Anspannung, die richtigen Schrittchen zu treffen, steht ihnen im Gesicht geschrieben. Todernst schauen sie drein, und die Augen werden ganz riesig.

Aber Gott sei Dank — Herr Otto vom Roten Kreuz bricht die Spannung. Er hat Geschenke mitgebracht. Für alle Kinder und Uniformierten, Süßigkeiten und einen großen Schokoladenweihnachtsmann. Die westlichen Alliierten verteilen ihre Gaben sofort artig weiter. In der Küche haben derweil die russischen Frauen gewirbelt. Große Platten tragen sie herein, voll mit warmen und duftenden Piroggen. Die deutschen Frauen haben Weihnachtsstollen mitgebracht, die sowjetischen Offiziere Krimsekt. Eike Warweg vom Neuköllner Presseamt packt auch seine Tüte aus. Jeder russische Soldat bekommt eine Schachtel Zigaretten, taktvollerweise weder »Go West« noch »Camel — So weit die Füße tragen«.

Wie lange gibt es noch die Rote Armee?

Das »gemütliche Beisammensein« kann jetzt beginnen, sagt Frau Simon, und die grelle Beleuchtung wird etwas heruntergeschaltet. Aber die internationalen Kontakte wollen nicht so richtig in Gang kommen. Die russischen Soldaten sitzen immer noch wie ein Block an ihrem Tisch, die westlichen Waffenbrüder unterhalten sich prächtig alleine. Dabei liegt ein Thema in der Luft, von Frau Simon in ihrer Festansprache mühsam umschifft. Die Sowjetunion gibt es faktisch nicht mehr, was ist mit der sowjetischen Armee? Die Franzosen, Briten, einige deutsche Gäste wackeln bedenklich mit dem Kopf. »Höchstens sechs Monate«, sagen sie hinter vorgehaltener Hand. Die Disziplin in den Kasernen sei nur noch mit rigiden Maßnahmen und mit Informationsentzug aufrechtzuerhalten. Eine Einschätzung, die die russischen Offiziere überhaupt nicht teilen wollen. Selbstverständlich, sagt der Oberst, wird es die sowjetische Armee noch lange geben und selbstverständlich sei Gorbatschow noch ihr oberster Befehlshaber. Daß die Ukraine am vergangenen Freitag ihre Soldaten unter eigenen Befehl gestellt hat, will der Offizier »nicht zur Kenntnis nehmen«. In Karlshorst geht alles seinen Gang, sagt er. Die Stimmung sei gut, sagt er, »eben wie immer«, und desertiert sei schon lange keiner mehr.

Das ist zu glauben. Die einfachen sowjetischen Soldaten werden selbst bei der Weihnachtsfeier beaufsichtigt. Keiner der jungen Soldaten ist über zwanzig Jahre alt, alle kommen sie aus Rußland. Den Stadtteil Karlshorst hat niemand von ihnen jemals verlassen, aber Groß-Berlin kennen sie ganz genau. Im Museum der sowjetischen Streitkräfte befindet sich ein Modell der Stadt. Aus dem Jahre 1945 und entgegen der Realität ist jede Straße, jedes Haus unzerstört abgebildet. Die Soldaten wissen daher ganz genau, wo der Wannsee und der Kurfüstendamm sind, aber eben nur theoretisch.

Im vergangenen Jahr sollen die Oberbefehlshaber von Berlinern und Brandenburgern mit Einladungen für sowjetische Militärangehörige restlos überschüttet worden sein. Auch Geschenkpakete seien lastwagenweise abgegeben worden, erinnert die Klubleiterin Frau Simon. Doch nur die sowjetischen Offiziere durften damals die Kasernen verlassen. In diesem Jahr hingegen dürften auch die einfachen Soldaten Privatpersonen besuchen, aber nur fünfzig Einladungen seien insgesamt an die russische Kommandantur ergangen, berichtet Frau Simon. Für viele Soldaten seien daher Weihnachtsfeiern, wie die von ihr organisierte, der erste und einzige Kontakt zu Deutschen. »Das ist so traurig«, sagt sie, »wenn die Soldaten später dieses reduzierte Deutschlandbild mit nach Hause nehmen.« Oder wirklich schlimm, nur die Erinnerung an die häufigen Anpöbeleien und Übergriffe, vor allem von ostdeutschen Jugendlichen. Anita Kugler

Am 20. Dezember findet um 19 Uhr im Offiziersklub der Roten Armee, in der Ehrenfeldstraße 2, nahe dem S- Bahnhof Karlshorst eine weitere Weihnachtsfeier für 250 einfache sowjetische Soldaten statt. Noch hat Frau Simon nicht genügend Berliner zusammen, die kommen und ein Päckchen überreichen. Wer den Soldaten eine Freude machen will, soll sich mit ihr in Verbindung setzen. Tel.: 95090131.

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