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Jetzt sehe ich, was Hunger bedeutet

Der Schock unter den Lebensmittelverteilern der italienischen Armee in Albanien  ■ Von Guido Rossi

Warum wir Brühwürfel, Salz und Reis ausgerechnet hier, ganz weit draußen vor dem Dorf, verteilen sollen, hat unser Leutnant uns so erklärt: Weil innerhalb der Orte die Gefahr besteht, daß die unsere Lastwagen stürmen. Einige von uns haben den Verdacht, daß der Offizier von hier aus die nahegelegende Armee-Kaserne der Albaner besser beobachten und die Grenze nach Jugoslawien erkunden kann — er fertigt ständig neue topografische Skizzen an.

Offiziell sind wir, allesamt Freiwillige, hier zur Verteilung der Hilfsgüter. Einige davon sind wirklich aus Italien, andere bekommen wir wohl von internationalen Organisationen, tun aber so, als kämen sie von uns. Die Menschen danken uns teilweise mit Handküssen, Männer bieten ihre Frauen oder Töchter für eine Nacht an. Einige von uns haben das Angebot angenommen und waren danach total verzweifelt darüber, wie diese Menschen nackt aussehen.

Bis ich hierherkam, hatte ich Hunger nur auf Fotos gesehen: Kinder, meist schwarze, mit Wasserbäuchen und fliegenumschwirrten nassen Augen, ausgemergelte Alte, Skelette. Hier habe ich erstmals gesehen, daß Hunger sich nicht nur im Blick oder in der durchsichtigen Haut ausdrückt. Für mich, der ich Hunger nur aus einer Dreitage-Diät kannte, war unvorstellbar, zu sehen, wie der Hunger Menschen zu Bestien macht.

Frauen, die ich beim Bummel als ganz ruhige Menschen kennengelernt hatte, kratzten vor unseren Verteilungs-Lastwagen ihre eigenen Brüder oder Nachbarn blutig, Kinder steckten Mehl aus der Tüte direkt in den Mund, verklebten sich den ganzen Gaumen mit Milchpulver und sahen dabei drein, als äßen sie Manna.

Als wir hier vor zwei Monaten in Albanien ankamen, spürten wir all dieses Elend noch nicht so sehr. Es war Frühherbst, auf den Feldern, an den Bäumen wuchs noch einiges, die Menschen sahen nicht gut genährt aus, aber auch nicht verfallen.

Sie sehen auch heute, jedenfalls angezogen, nicht wie Skelette aus, aber was sich geändert hat, ist ihr Blick. Darin ist Angst, die sich sofort in etwas Raubtierartiges wandelt, sobald sie vermuten, daß sich die Wundertüte der Spender auftut. Die Regale in den Geschäften sind ausnahmslos leer, wie Hohn leuchten an manchen Abenden noch mal kurz die Neonreklamen mit Schweine- oder Kälberbildern auf. Einige ältere Städter dachten vorige Woche, es sei etwas angekommen und rannten stolpernd und zuckend dorthin. Als die Lichter wieder verloschen, haben sie gegen die Fenster geklopft, kurz danach kam Polizei, es gab Prügel. Seit Wochen kündigen wir nicht mehr an, wohin wir fahren: Die Menschen raufen bereits Stunden zuvor um die besten Ausgangspunkte. Vor zwei Wochen gab es bei der Unterdrückung eines Hungeraufstandes Tote.

Wir hatten die Vorgabe, alles militärisch genau und geordnet durchzuführen. Doch wie sollen wir das mit Lebensmittelkarten und Stempeln machen, wenn plötzlich zweitausend Menschen auf uns zustürmen? Die albanische Polizei, die wir anfangs holten, kann nur zuschlagen. Selbst Waffen zücken können wir auch nicht, schließlich sind wir weltöffentlich reine Samariter, keine Verteilungs-Gorillas. Eine Lösung ist uns noch nicht eingefallen.

Besser voran kommt da wohl unser Leutnant mit seinen Beobachtungs-Aufgaben: Vorige Woche haben unsere Leute zusammen mit lokalen Agenten Vorbereitungen zu einer neuen Massenflucht von Verzweifelten nach Italien denunziert. Die Leute wurden festgenommen, manche krankenhausreif geschlagen — die Gegenleistung der albanischen Regierung für unsere Hilfsgüter: Kein Hungerleider soll mehr die „Festung Europa“ erklimmen.

Seid beruhigt, EG-Staatler: so lange wir hier sind, werden wir schon dafür sorgen, daß keiner mehr nach Bari oder Brindisi kommt.

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