: Drohungen haben einen wahren Kern
■ Gewalt gegen Kinder in Berlin (Zweiter Teil)/ In der DDR gehörte eine Tracht Prügel zur »guten, alten Tradition«/ Sexueller Mißbrauch war dem Sozialismus angeblich »wesensfremd«
Man täusche sich nicht. Sexuelle und überhaupt körperliche Gewalt gegen Kinder ist nicht nur in Kreuzberg oder Neukölln zu finden. Und ohnehin nicht nur im Westen Berlins. Zwar konnte es nach offizieller Lesart in der DDR und damit auch im Ostteil der Stadt keine Mißhandlung und keinen sexuellen Mißbrauch von Kindern geben — so etwas sei dem Sozialismus »wesensfremd«, hieß es — doch handelt es sich dabei um nichts anderes als eine grandiose Verleugnung. So sehr funktionierte das staatlich organisierte Nichtmerken, daß es nicht einmal den Gedanken der Prävention gab. Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, gab es auch keine verwertbaren statistischen Angaben über derlei Delikte gegen Kinder.
Wenn Gewalt gegen Kinder Thema wurde, dann handelte es sich um pathologische Täter, um Einzelfälle aus einem — Zitat — »asozialen Mangelmilieu«, die nichts mit der gewalttätigen gesellschaftlichen Konstitution zu tun hatten. Erst jetzt, langsam, aber sicher, lang gemieden und angsterregend, kommen Fetzen der Wahrheit ans Tageslicht, wie sie der Therapeut Hans Joachim Maaz am Rande einer seiner vielen Diskussionsveranstaltungen in Berlin zu berichten weiß. Auch er hat jetzt noch keine Zahlen zur Hand: »Ich weiß nur aus meiner Arbeit, daß Gewalt ein ständiges Thema in den Therapien ist, sobald die Erwachsenen bereit sind, über ihre Kindheit zu sprechen. In diesem Zusammenhang wird sehr häufig der sexuelle Mißbrauch von Mädchen und Jungen aufgedeckt. Aber das Umfassendste, denke ich, ist psychischer Terror gewesen.«
Gewalt gegen Kinder ist nicht nur sexuelle Gewalt. Kinder werden geschlagen, niedergebrüllt, manipuliert. Im Falle der DDR wurden sie zudem totalitären Mechanismen und Institutionen untergeordnet, mit deren Hilfe sie zu staatstreuen Sozialisten konditioniert werden sollten. Die Gewalt eines staatlich-autoritären Erziehungssystems hat somit im Osten Deutschlands seit der wilhelminischen Ära eine unheilvolle Tradition und verfehlt bis heute seine Wirkung nicht. Selbstverständlich gehörte also im Ost-Berlin der DDR- Zeit die Tracht Prügel zur »guten, alten«, nie reflektierten Tradition, auch wenn sie der dort gebürtige Bündnis-90-Mann Konrad Weiß als Kind nicht erleiden mußte: »Für mich als Kind gab es die Gewalterfahrung nicht, ich bin bei meiner Mutter großgeworden, weil mein Vater 1945 gestorben ist, und mit ihr gab es in dieser Hinsicht keine Probleme. In der DDR insgesamt allerdings gab es Gewalt gegen Kinder. Gewalt gegen Kinder ist ja immer Ausdruck der Schwäche von Erwachsenen und von ihren unbewältigten Konflikten. Und von diesen Konflikten gab es ja in der DDR mehr als genug. Sie wurden an die Kinder weitergegeben. Ich glaube, daß in vielen Familien der DDR geprügelt oder zumindest nicht in gewaltfreier Weise mit den Kindern umgegangen wurde.«
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil. Die Wende, die die materielle, aber auch die ideelle Wirklichkeit des Ostens zu Recht zerstörte, erzeugte eine profunde, existentielle Krise der DDR- Gesellschaft, als auch der Individuen, so es sie gab. Und eben diese Krise wird buchstäblich auf den Rücken der Kinder ausgetragen. Sie werden einmal mehr zu Opfern. Zwar liegen darüber erst recht noch keine empirischen Daten vor, doch ist auch Konrad Weiß dieser Meinung: »Ich vermute mal, daß durch die angespannte Situation, in der sich viele Familien befinden, die Fälle von Gewalt gegen Kinder noch häufiger sind und daß die eigene Resignation, der eigene Frust in Form von Prügel und verbaler Gewalt an die Kinder weitergegeben werden.«
Konrad Weiß will nicht nur aus dieser Tatsache die Konsequenzen ziehen. Er wird demnächst in der »Kinderkommission des Deutschen Bundestages« für die Belange der Kinder in Ost und West arbeiten. Doch bitte keine Illusionen. Auch diese Institution kann zunächst lediglich nur die eine oder andere Anhörung durchführen und ist ansonsten nur eines: Überlastet und finanziell provozierend mies ausgestattet — vielleicht nur ein PR-Gag unserer Bonner Abgeordneten, das Ganze?! Dennoch will der einstige Verfilmer der Janusz-Korszak-Biographie den Versuch wagen: »Ich versuche durch meine Arbeit im Bundestag dafür zu sorgen, daß der gesetzliche Rahmen für ein kinderfreundliches Land geschaffen wird. Viel wichtiger aber ist es, daß es uns gelingt, von der kinderfeindlichen Gesellschaft, die Deutschland heute ist, zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft zu kommen. Und dieser Prozeß muß alle Lebensbereiche durchdringen.«
Indes schreit irgendwo in dieser Stadt eine Mutter ihren Sohn an: »Wenn ich das deinem Vater erzähle, dann schlägt der dich tot...« Solche Drohungen haben einen wahren Kern. Der kann im Bereich der Phantasie liegen oder Realität werden. Kinder werden totgeschlagen. »Baby tot in Mülltonne gefunden« — so lautet dann die Schlagzeile. Wie konnten die Eltern das tun, die Frage. Kopfschütteln, Entsetzen ist die Antwort. Selbstverständlich reichen solche Antworten nicht aus. Es gilt etwas zu tun, den vielen Berliner Kindern und Jugendlichen zu helfen, die mißhandelt und mißbraucht werden. Ihnen eine Möglichkeit der Zuflucht zu geben, einen Ort, wo niemand sie behelligt und an dessen Wände sie ihre Träume von Liebe und Zuneigung notieren können.
Die »heilige Familie« ist nur ein Mythos
Alle Jungen und Mädchen haben diese Träume. Auch die Mädchen im türkischen Mädchenladen »Elis Evi« (»Handarbeitshaus«) in der Skalitzer Straße. Initiiert von einer Schülerinnengruppe im Jahre 1983, wurde aus dem Projekt eine mit lumpigen anderthalb Planstellen ausgestattete Anlaufstelle, in der die türkischen Mädchen das in ihren Familien Unsagbare zur Sprache bringen können. Kein Junge, kein Mann darf hier herein. In solch einem geschützten Raum kommt schließlich die Wahrheit ans Licht. Die hier federführende Sozialpädagogin Katharina Möcklinghoff mochte zunächst oft gar nicht glauben, wie sehr Gewalt gegen Kinder auch in türkischen Familien an der Tagesordnung ist: »Ich muß ganz ehrlich sagen, daß meine türkischen Kolleginnen und ich bis vor drei Jahren geglaubt haben, es gäbe überhaupt keinen Mißbrauch in türkischen Familien. Wir wußten, daß es ein strenges Erziehungsprinzip und starke Verbote in den Familien gibt, aber daß wir sexuellen Mißbrauch bei einzelnen Mädchen feststellen würden, das hatten wir bis dahin nicht für möglich gehalten. Einige wenige Mädchen haben inzwischen sogar von sich aus darüber gesprochen, nachdem sie von zu Hause weggelaufen sind. Da hat sich in der Tat etwas geändert: Vor einigen Jahren war es noch so, daß die Mädchen auf Grund ihrer Konflikte psychosomatisch erkrankten, im schlimmsten Fall einen Selbstmordversuch unternahmen. Einige Mädchen wurden sogar von ihren Familien umgebracht. Aber mittlerweile ist es so, daß die Mädchen nicht mehr in die Krankheit flüchten, sondern von zu Hause abhauen. Sie leisten Widerstand!«
Dieser Widerstand hat oft genug die Trennung von der Familie zur Folge. Die Mädchen akzeptieren es nicht länger, daß es eine Schande ist, wenn sie sich modisch kleiden, wenn sie mit einem Jungen vor der Ehe ausgehen oder daß sie »unberührt« in den Ehestand treten sollen. Geht das Mädchen als Konsequenz erst einmal auf »Trebe«, dann ist es meistens schon zu spät: Die Familie will im besten Fall nichts mehr von ihr wissen. Nur manchmal, wenn die »Schande« der Tochter noch nicht allzu publik ist, gelingt eine Intervention über die Mutter des Mädchens, und es wird noch einmal in die Familie aufgenommen. Dann aber unterliegt es erst recht ständiger Kontrolle durch die männlichen Familienmitglieder. Und wie bereits vorher kommt es zu Mißhandlungen, wie Moazez Illian, eine Mitarbeiterin im Laden, zu berichten weiß: »In den türkischen Familien werden die Kinder wie selbstverständlich geschlagen. Vor allen Dingen die Mädchen, wenn sie nach Meinung ihrer Eltern der Familie ‘Schande‚ bereiten. In dieser Hinsicht werden Mädchen eher mißhandelt als Jungen.«
Es ist den Immigrantenfamilien kaum zu vermitteln, daß ihre Kinder keine »Esel« sind, die man prügeln darf. Vor allen Dingen dann schlägt nach Ansicht von Frau Illian jeder Vermittlungsversuch fehl, wenn das Leiden an den Zuständen in der Emigration so stark ist, daß die damit verbundene Verunsicherung eine Konservierung gewalttätiger Werte zur Folge hat: »Ich habe das Gefühl, daß die türkischen Eltern in Deutschland konservativer sind als daheim, in der Türkei. Sie sind seit ungefähr 25 Jahren hier, ganz und gar unter sich geblieben, haben ihre Traditionen bewahrt und sich nicht weiterentwickelt. Wenn ich in der Türkei bin, merke ich, daß die Leute dort fortschrittlicher über Ehre und Ehe denken, als unsere Leute hier.«
Doch alles Leugnen hilft nichts: Das traditionelle türkische Familiensystem ist in der Krise, und den Mädchen bleiben nicht viele Fluchtpunkte vor den gewalttätigen Auswirkungen dieser Krise. Hier im Laden allerdings, hier wirken sie entspannt und sicher. Dieser Ort gibt ihnen Geborgenheit und Schutz — eine Sicherheit also, die oft genug auch Kinder in deutschen Familien vermissen müssen.
Verständnis für den Vater nutzt wenig
Denn viele Eltern sind mit ihren Kindern einfach überfordert. Sie haben nicht die nötige Reife, sich auf ein Gegenüber einzulassen, daß ihnen ständig einen Spiegel vorhält: Sie wollen nicht an das erinnert werden, was ihnen selbst in der eigenen Kindheit geschah. Also schützen sie ihre Traumata vor dem grellen Licht der Wahrheit. Wenn sie ihren Kindern Gewalt antun, um sie mit Prügel auf Distanz bringen, oder sie für ihren deformierten Sexualtrieb mißbrauchen, dann sind sie oft Täter und Opfer zugleich. Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Gesichtspunkt für den familientherapeutischen Ansatz, doch nutzt sie im akuten Notfall wenig. Zuallererst muß dem Kind geholfen werden. Es hat das Recht, aus der Gefahrenzone »Familie« gebracht zu werden, bevor es noch weiter zerstört wird.
In der Steglitzer Arno-Holz- Straße gibt es die Möglichkeit, aus der Gefahrenzone zu entkommen. Die seit elf Jahren existierende »Kinderwohngruppe« des Berliner Kinderschutzzentrums bietet Kindern aller Altersklassen Zuflucht vor der Gewalt, die sie in ihren Familien erleiden müssen. Leider sind es nicht mehr als maximal acht bis neun Plätze, die in der prächtigen alten Villa zur Verfügung stehen. Spätestens hier muß man den staatlich verordneten Glauben an die wohltuende Wirkung der »heiligen Familie« verlieren. Der Psychologe Claus-Peter Rosemeier sitzt dem Mythos schon seit langen nicht mehr auf: »Wenn man hier arbeitet, lernt man sehr schnell, daß es diese heilige Familie nicht existiert. Vielmehr gibt es zum einen Familien, in denen zwar viele Schwierigkeiten zu bewältigen sind, in denen aber dennoch Kinder aufwachsen können. Ich würde in dieser Hinsicht die Standards nicht so hoch ansetzen, daß daraus folgt, daß die Hälfte der Familien eigentlich gar keine Kinder mehr erziehen dürfte. Das wäre ein völlig verfehlter Anspruch. Zum anderen gibt es aber auch Familien, in denen die Bedingungen für die Kinder so schlecht sind, daß den Eltern nur dadurch geholfen ist, wenn sie ihr Kind woanders aufwachsen lassen.« Detlef Berentzen
Detlef Berentzen ist freier Autor und Journalist für Printmedien, Rundfunk und Fernsehen sowie Redakteur der Zeitschrift für Kindheit 'enfan't‘. Die Serie wird am Samstag fortgesetzt.
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